Nach dem "Bürgerrat Klima"

Geschrieben von AG Bürger:innenversammlung am 04.07.2021

Die nächste Bundesregierung hat keine Ausreden mehr

Der Bürger:innenrat Klima hat am 23. Juni Empfehlungen für eine bessere und gerechtere Klimapolitik beschlossen! Die Bürger:innen fordern eine klare Priorisierung des 1,5° Grad Ziels in der deutschen Politik, Klimaschutz als Menschenrecht im Grundgesetz, Gerechtigkeit in verschiedener Hinsicht, Kohleausstieg bis 2030, ein pro Kopf-Klimabudget oder die Bestrafung von 'Klimakriminalität'. Wir begrüßen die Empfehlungen des Gremiums daher ausdrücklich. Wir bei XR glauben schon lange an die Kraft und Intelligenz von Bürger:innen. Unsere dritte Forderung spiegelt dieses Vertrauen in die Menschen wider. Bevor wir auf die Empfehlungen und den Prozess weiter eingehen, möchten wir noch eines klarstellen: Dieser Bürger:innenrat Klima kommt unserer 3. Forderung auf den ersten Blick sehr nahe, erfüllt sie aber nicht, weil er zivilgesellschaftlich organisiert wurde. Trotzdem unterstützen wir das Projekt von ganzem Herzen und hoffen nun, dass Politiker:innen die Empfehlungen wirklich ernst nehmen und die Klima-Debatte vor den Bundestagswahlen angeheizt wird. Gleichzeitig fordern wir nach wir vor einen politisch beauftragten und klar angebundenen Bürger:innenrat, dessen Ergebnisse dann auch verbindlich in die weitere Entscheidungsfindung einfließen. Getreu unserem Motto Politik neu leben arbeiten wir auf tiefgreifende Veränderungen des politischen Systems für mehr Mitentscheidung hin. Nun aber zurück zum „Bürgerrat Klima“: Was war das? Wie bewerten wir den Prozess? Und wie geht es nun weiter?

Was war das, “Bürgerrat Klima”?

Im „Bürgerrat Klima“ kamen 160 zufällig ausgewählte Menschen, deren Zusammensetzung nahezu ein Deutschland in Klein abbildete, über 12 Sitzungstage oder etwa 50 Stunden zusammen, um mithilfe professioneller Moderator:innen folgende Fragestellung zu bearbeiten:

Wie kann Deutschland die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens erreichen – unter Berücksichtigung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Gesichtspunkte?“

Sachkenntnisse und Entscheidungsgrundlage lieferten insgesamt ca. 40 Vorträge von Expert:innen aus Wissenschaft und Forschung sowie von Betroffenen. Im Laufe des Prozesses wurden die Bürger:innen auf vier Handlungsfelder aufgeteilt, um in Kleingruppen an Lösungsvorschlägen für konkrete Maßnahmen zu arbeiten. Angegangen wurden die Themen Energie, Gebäude und Wärme, Mobilität sowie Ernährung. Zusätzlich gab es Sitzungen zu „Instrumenten der Transformation“, wo es hauptsächlich um die Bepreisung von CO2 ging. Zwischen April und Juni feilten die Bürger:innen im Austausch mit Wissenschaftler:innen und stellenweise auch mit Politiker:innen an den Politikempfehlungen. Die Ergebnisse wurden am 23. Juni veröffentlicht. Das abschließende Gutachten des Bürger:innenrats wird der Politik erst nach den Wahlen zu den Koalitionsverhandlungen übergeben. Soweit die Eckdaten. Was haben die Bürger:innen inhaltlich erarbeitet?

Die Empfehlungen: 1,5°C als Priorität, Gerechtigkeit im Blick und einige konkrete Maßnahmen

Herausgekommen sind 76 Empfehlungen, die zur Einhaltung des 1,5°-Ziels beitragen sollen. Wir können hier nicht auf alle eingehen, daher heben wir nur ein paar hervor. Neben Elementen zur Regulierung wie einem vernünftigen CO2-Preis wurden zehn Leitsätze formuliert und abgestimmt. Darunter sind die Priorisierung von Klimaschutz vor Wirtschaftsinteressen, eine staatliche Aufklärungspflicht über das Ausmaß der Krise oder die Verpflichtung zur Aufnahme von Klimainformationen in alle Bildungsinstitutionen. Außerdem betonen die Bürger:innen Gerechtigkeit auf drei verschiedenen Ebenen:

  • sozial: Verantwortungsübernahme nach dem Verursacherprinzip mit sozialem Ausgleich,
  • inter-generationell: Verantwortung für künftige Generationen und
  • global: die Anerkennung, dass es viele Länder bereits viel schlimmer trifft als uns in Deutschland, obwohl sie weniger zur Klimaerhitzung beigetragen haben.

Das ist zwar alles nicht sonderlich neu, aber eine äußerst wünschenswerte Basis für Klimapolitik, wie wir sie auch im Kontext von XR fordern. Ein weiterer Vorschlag lautet, 'Klimakriminalität' zu bestrafen, auch wenn unklar bleibt, was genau darunter zu verstehen ist. Da das Klima selbst nicht geschädigt werden kann, sondern nur Lebewesen, konnten sie natürlich nicht 'Klimazid' verwenden. Abgesehen davon ist der Begriff eine schöne Analogie zu der von uns geforderten Bestrafung von Ökozid für die Zerstörung von Ökosystemen und Artenvielfalt, den wir unterstützenswert finden.

In den vier Handlungsfeldern wurden jeweils ca. 20 Empfehlungen abgestimmt. Im Handlungsfeld Energie wurden beispielsweise der Kohleausstieg 2030 empfohlen, eine Verschiebung der Subventionen, der massive Ausbau von Rad- und Bahninfrastruktur sowie des ÖPNV. Die Wichtigkeit der Wärmewende wurde im Handlungsfeld Gebäude und Wärme deutlich, für die konkrete Maßnahmen erarbeitet wurden. Spektakuläre Ergebnisse lieferte das Handlungsfeld Ernährung mit sehr hohen Zustimmungsraten. Die Landwirtschaft soll vom Klimasünder zum Klimaschützer werden, begleitet von Regelungen zur Konsument:innenensteuerung. Bemerkenswert ist, dass das Leitbild und die Empfehlungen weit über das hinausgehen, was wir bisher aus Politik und Regierung gehört haben. Beeindruckend finden wir auch, dass 90% der Empfehlungen über 90% Zustimmung erhielten.

Ob und inwieweit diese Empfehlungen bei kompletter Umsetzung durch die Politik ein fairer Beitrag Deutschlands zur Einhaltung des 1,5° Grad Ziels wäre, können wir aktuell nicht bewerten. Fest steht: Die Ergebnisse des Bürger:innenrat "Klima" gehen, wie schon die Ergebnisse des vorigen Bürger:innenrats „Deutschlands Rolle in der Welt“, eindeutig in die Richtung wie wir sie auch bei Extinction Rebellion fordern. Darüber freuen wir uns. Gleichzeitig wurden viele wichtige Aspekte aufgrund der Themensetzung und der Kürze der Zeit nicht bearbeitet. Die Frage nach den systemischen Ursachen für Zerstörung, Ausbeutung und Erderhitzung wurde nicht gestellt. Von Kritik am vorherrschenden Wachstumszwang fehlt jede Spur, doch zumindest soll Klimaschutz vor Wirtschaftsinteressen gestellt werden. Außerdem wurden weder der Bereich 'Anpassung an die Folgen der Klimaerhitzung' thematisiert noch Querbezüge zum existentiellen Problem des Biodiversitätsverlusts hergestellt. Daher legen wir jetzt den Schwerpunkt darauf, einen nächsten – politisch verbindlichen - Bürger:innenrat zur Biodiversitätskrise einzufordern!

Wie lief der Prozess? Lehren für die Zukunft

Wie eingangs erwähnt, entspricht der „Bürgerrat Klima“ nicht unserer dritten Forderung, da die Empfehlungen für die Politik in keiner Weise verbindlich sind. Abgesehen von dieser aus unserer Sicht ungünstigen Rahmenbedingung erscheint uns die Durchführung dieses komplett virtuellen Bürger:innenrats insgesamt sehr gut gewesen zu sein. Wir haben den Prozess, so gut es ging, kritisch begleitet und an der einen oder anderen Stelle Fragen mit den Organisator:innen geklärt. Im Folgenden fokussieren wir uns daher lediglich auf ein paar Kritikpunkte, die wir im Großen und Ganzen unter 'Lehren für die Zukunft' verbuchen. Denn wir haben in Deutschland nun mal reichlich wenig Erfahrung mit Bürger:innenräten auf Bundesebene.

Erstens hatten wir häufig den Eindruck, dass der Input von Expert:innen nicht unbedingt breit verständlich aufbereitet war. So wurden etwa sehr viele Fakten in kürzester Zeit genannt, die Möglichkeit für direkte Rückfragen war nur eingeschränkt vorhanden und vieles wurde im Fachjargon der Expert:innen ausgedrückt. Dies sorgt nicht dafür, Hürden abzubauen. Hinzu kommt, dass nicht alle Menschen geübt darin sind, einer Folienpräsentation zu folgen. Daher sollten in Zukunft verschiedene didaktische Formate zum Einsatz kommen. Wir verstehen aber auch die Herausforderung eines komplett virtuellen Bürger:innenrats mit eingeschränkten Möglichkeiten.

Zweitens wünschen wir uns für künftige Bürger:innenräte, dass die Teilnehmenden im Prozess selbst mehr Gestaltungsmöglichkeiten erhalten. Aufgrund der Kürze der Zeit und der Komplexität des Themas wurden die Teilnehmenden in vorab festgelegte Handlungsfelder aufgeteilt. Zwar wurde auch der Austausch zwischen den Themenfeldern gefördert und die Diskussionen ins Plenum zurückgespiegelt, jedoch begünstigt die vorab festgelegte thematische Aufteilung eine eher technische Bearbeitung der Klimakrise. Wir glauben, dass die Teilnehmenden bei der Wahl von Unterthemen mehr Mitbestimmung und Freiheiten haben sollten, weil das auch die Bearbeitung von Fragen ermöglichen würde, die sich erst aus den Diskussionen ergeben. Beispielsweise ist ein wiederkehrendes Thema, das viele Bürger:innen beschäftigt, die grundsätzliche Frage nach den Ursachen für die Klimakrise im Wirtschaftssystem, für deren Bearbeitung in einem eng gesteckten Rahmen oft nicht viel Zeit bleibt.

Drittens gelang die soziale Abbildung der Bundesbürger:innen durch das geschichtete Losverfahren zwar gut, jedoch mit der Ausnahme des Bildungsabschlusses (10% sind mit Hauptschulabschluss dabei, im Bundesdurchschnitt sind es ca. 30%, im Bundestag jedoch nur 1,3% ). Dies ist nicht unüblich bei Bürger:innenräten, schränkt aber die statistische Repräsentativität des Gremiums für die deutsche Bevölkerung etwas ein.

Viertens mangelte es leider an medialer Berichterstattung, weshalb der Bürger:innenrat im gesellschaftlichen Diskurs keine Rolle spielte. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren. Ein nicht unwesentlicher Grund dürfte aber gewesen sein, dass es keine politische 'ownership' für den Prozess gab und die Implikationen der Ergebnisse unklar sind. Für die Zukunft halten wir fest, dass ein Bürger:innenrat durch eine groß angelegte Kommunikationskampagne begleitet werden sollte, um den gewünschten Informations- und Multiplikations-Effekt in die Breite der Bevölkerung zu erreichen.

Ausblick 3. Forderung – Wie geht es weiter?

Der „Bürgerrat Klima“ hat erneut gezeigt, dass die Empfehlungen der Bürger:innen deutlich fortschrittlicher und gemeinwohlorientierter sind als die völlig unzureichende und verantwortungslose bisherige Klimapolitik. Es wurde deutlich, dass die Bürger:innen zu vielen notwendigen Maßnahmen bei der Eindämmung der Klimakrise die Menschen bereit sind, wenn sie nur die Möglichkeit bekommen sich zu informieren, auszutauschen und zu diskutieren. Dafür schaffen geloste Bürger:innenräte das ideale Forum und sind deshalb ein bedeutsames Beteiligungsformat zu Belebung unserer Demokratie. Die nötige Transformation in allen Lebensfeldern, die zur Bewältigung der Klimakrise gefordert wird, ist ohne starke Bürger:innenbeteiligung nicht zu machen. Demokratie neu leben ist jetzt aktueller denn je.

Wir fordern Politiker:innen aller Parteien auf, alles für die Einhaltung des 1,5° Grad-Ziels aus dem Pariser Abkommen zu tun und die Empfehlungen der Bürger:innen umzusetzen! Derzeit besteht die Gefahr, dass Bürger:innenräte für eine symbolische Politik missbraucht werden, mit der der Bevölkerung vorgegaukelt wird, dass sich Politik erneuert, während im Hintergrund das vom Wirtschaftslobbyismus unterlaufene politische System unangetastet bleibt. Deshalb setzen wir uns weiter für politisch beauftragte und klar angebundene Bürger:innenräte zu den großen Überlebensfragen ein. Es müssen dringend weitere Bürger:innenräte zur Aufhaltung ökologischer Krisen und gegen das Artensterben folgen!

Wenn ihr Fragen, Kritik oder Lust auf Mitarbeit in der AG Bürger:innenversammlung habt, meldet euch gerne bei uns unter bv@extinctionrebellion.de

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