Radikal und systemsprengend: Die offene Versammlung

Geschrieben von Annette am 06.06.2020

Offene Versammlung in Freiburg im Breisgau

Eine persönliche Betrachtung

Bei der Aktion Pinocchio haben am 20. Juni viele die Möglichkeit, selbst zu erfahren, wie Politik anders gelebt werden kann. Wir werden in verschiedenen Städten Orte des Vertrauens schaffen, Orte, die radikal inklusiv sind und an denen wir aktiv zuhören. In der Nähe von demokratischen Institutionen werden offene Versammlungen stattfinden – moderierte Foren, bei denen alle eingeladen sind, spontan und gemeinsam über ein Thema zu diskutieren.

Annette hat offene Versammlungen erlebt und berichtet hier über ihre Erfahrungen.


Ist das Miteinander-Nachdenken-und-Reden eine politische Handlung? Kann so etwas systemsprengend sein? Meine eindeutige Antwort ist ja, wenn das im Rahmen der Offenen Versammlung (OV) geschieht. Das ist doch Unsinn, oder? Die offene Versammlung stellt doch keine Forderungen auf. Beschlüsse gibt es nicht. Wo bleibt die demokratische Pro-Kontra-Debatte? Weshalb versammelt man sich, wenn nichts passiert?

Meine Erfahrung: Die OV war schlichtweg radikal: Nicht, weil dort radikal gehetzt oder extreme Forderungen aufgestellt wurden. Sie war radikal, weil sie so inklusiv war. Radikal, weil alle gleichwertig waren. Und auch, weil das gesprochene Wort an Bedeutung verlor und die Körpersprache an Bedeutung gewann. Herkunft, sozialer Rang (gemessen an der Coolness der beruflichen Tätigkeit), Geschlecht und Alter? Absolut unwichtig. In den Offenen Versammlungen, an denen ich teilnahm, entwickelte sich ein Zauber – das Wer und das Wie des Beitrags schaltete sich in meinem Kopf aus, der Gedanke oder die Idee stattdessen ein. Es war, als könne ich die Augen schließen, mitdenken und mitträumen. Fließend ließ sich die Idee eines Teilnehmenden von einem anderen weiterspinnen. Oder sie blieb einfach stehen. Oder schnell, ein Geistesblitz! Dann ein kleiner Umweg. Pause. Neustart — wir flogen ganz woanders hin.

Die Versammlung lief trotzdem strukturiert ab; sie respektierte die Zeit und sie schaffte einen konzentrierten und offenen Raum. Wer diesen Raum betreten hatte, ließ sich darauf ein. Nicht das Rechthaben zählte, sondern die Fliehkraft eines Gedankens. Es gab keinen Zwang, logisch, konsequent, analytisch oder eloquent zu sein. Die Gesprächspausen verankerten und verbanden das Gesprochene.

Worin bestand der Zauber der Offenen Versammlung? Alle spürten ihn. Alle wussten, dass etwas Größeres entstanden war als nur ein Gedankenaustausch in der digitalen Zeit-Raum-Achse. Die Intelligenz des Schwarms, die Freiheit des Denkens, die Unvorhersehbarkeit der Ideen: das ist die Zauberformel. Die Offene Versammlung sprengte das „System“ - nämlich mein Kommunikations- und Wahrnehmungssystem. Die OV war eine politische Meditationsübung: sich selbst und die eigenen Gedanken vergessen. Anschließend sich daran erinnern, was von Anderen (allen) gedacht wurde. Das Ego für eine kurze Zeit aufheben. Integration von außen nach innen. Neue Impulse. Ich verließ den digitalen Raum und war irgendwie anders danach.

Offene Versammlungen (OVs) sind Zusammentreffen, bei denen spontan und gemeinsam über ein Thema diskutiert wird. Jede OV ist einmalig, weil alle Teilnehmenden und Dazustoßenden zum Sprechen eingeladen sind und der Verlauf nicht vorbestimmt ist. Und es kann um alles gehen – darum, wie Klimagerechtigkeit gefordert und gelebt werden kann oder wie wir die Straße als Lebensraum zurückgewinnen können, zum Beispiel. Denn es geht ja um alles. Bei OVs kommt es nicht darauf an, am besten zu argumentieren. Sondern darauf, Ideen und Gefühle für Veränderung zu teilen. Alle Stimmen werden dabei gleich gehört und geschätzt. OVs sind Orte radikaler Inklusivität und Vertrauens, Orte, an denen wir aktiv zuhören.

In deiner Stadt ist noch keine OV geplant? Organisiere selbst eine Offene Versammlung! Wie du das machst und wo es Hilfe gibt, kannst du hier erfahren: pinocchio@extinctionrebellion.de

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