Ziviler Ungehorsam und Vorurteile

Geschrieben von Birgitta Wolf am 02.05.2020

XR Deutschland

XR-Aktion auf der Berliner Marshallbrücke (Rebellion Wave 2019)

Ökopopulismus und Panikmache, Demokratiefeindlichkeit, Sekte ... - Die Vorurteile über Extinction Rebellion sind so zahlreich wie die Gerüchte. Bei Versuchen, sie zu beschreiben, wird die Bewegung häufig mit Behauptungen diskreditiert, die den Tatsachen nicht entsprechen. Auch Klaus Staeck entwirft in einem kürzlich erschienenen Artikel ein Bild, das mit den Erfahrungen der allermeisten XR-Rebell:innen nicht viel zu tun hat.

In einem offenen Brief antwortet eine Mitstreiterin Klaus Staeck auf seine Kolumne in der Berliner Zeitung vom 15. April 2020.



Warum freuen Sie sich nicht, lieber Herr Staeck, dass sich weltweit eine junge Bewegung etabliert, die mit viel kreativer Energie, Mut und Enthusiasmus - und zugleich sehr ernsthafter Entschlossenheit - für dieselben Ziele rebelliert, für die Sie sich auch engagieren?

Schon immer habe ich Sie als innovativen Künstler geschätzt, für Ihre politischen Aktivitäten und für die Grafiken, mit denen es Ihnen so einfallsreich gelungen ist, Missstände auf den Punkt zu bringen. Gerade auch deshalb erstaunt mich umso mehr Ihre Kolumne in der Berliner Zeitung vom 15. April, die einige Behauptungen über Extinction Rebellion aneinander reiht, die ganz offensichtlich nicht den Tatsachen entsprechen.

Immer wieder kursieren Behauptungen und Gerüchte über XR, die die Realitäten verzerren und geeignet sind, um die Bewegung zu diskreditieren und deshalb gerne von politischen Gegner:innen aufgegriffen werden. Auch das Bild, das Sie in Ihrer Kolumne entwerfen, vermittelt einen Eindruck, der mit meinen Beobachtungen nur wenig zu tun hat. XR ist eine „ökopopulistische Sekte“? Eine demokratiefeindliche Gruppierung von Panikmachern, die den Menschen Angst einjagen und unsere Parlamente abschaffen will?

Ich weiß nicht, auf Grundlage welcher Quellen Sie zu all diesen Annahmen kommen. In dem Artikel des XR-„Aussteigers“, auf den Sie hinweisen, finde ich jedenfalls keine nachvollziehbaren Begründungen für die erhobenen Vorwürfe. Was Ihre Klarstellung in der Frankfurter Rundschau betrifft, danke ich Ihnen für Ihre Korrektur. Doch diese bezieht sich ja lediglich auf Ihre Kritik an den Bürger:innenversammlungen.


1. Coronakrise, Klimawandel und Klimapolitik

Erst recht zum gegenwärtigen Zeitpunkt verstehe ich ganz prinzipiell nicht, warum nicht alle, denen etwas an Klimagerechtigkeit liegt, ihre Kräfte bündeln und gemeinsam dafür arbeiten, dass ein klimapolitischer Wandel gelingen kann.

Denn gerade jetzt ist die Zeit, Widerstände zu überwinden, sich auf gemeinsame Ziele zu konzentrieren und mit vereinter Energie dafür zu kämpfen, dass die Möglichkeiten, die in der aktuellen Ausnahmesituation liegen, ergriffen werden. Nur so kann es gelingen, dass die Coronakrise – so ernst und bedrohlich sie ist - zur Klimachance werden kann.

In der aktuellen Krisensituation – immerhin wird gerade diskutiert, wie Hilfsgelder in dreistelliger Milliardenhöhe investiert werden – ist nicht nur unsere Gesundheit bedroht wie auch zahllose materielle Existenzen, sondern es besteht zugleich auch die historische Möglichkeit, die Weichen zu stellen für eine nachhaltige und faire Klimapolitik. Konkrete Vorschläge hierfür wurden bereits erarbeitet.

Dass verschiedene Wirtschaftsverbände nun versuchen, die durch die Pandemie entstandene Notlage auszunutzen für kurzfristige Profitinteressen und ein Aufweichen der Klimaziele erreichen wollen – das überrascht nicht. Doch dagegen sollten wir uns wehren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich die Fehler der Finanzkrise von 2008/9 wiederholen, als öffentliche Mittel ausgeschüttet wurden, ohne diese an Kriterien der Klimaverträglichkeit zu binden.

Angesichts der Corona-Pandemie sind es nun auch längst nicht mehr nur Klimaforscher:innen und Umweltverbände, die ein ganz grundsätzliches politisches Neudenken fordern.

„Noch immer ist nicht nur die Pandemie das größte Problem, sondern der Klimawandel, der Verlust an Artenvielfalt, all die Schäden, die wir Menschen und vor allem wir Europäer durch Übermaß der Natur antun.“

Nicht ein XR-Rebell war es, der dies jüngst äußerte, sondern diese Einschätzung teilt mittlerweile auch der deutsche Bundestagspräsident und ehemalige CDU-Innen- und Finanzminister Wolfgang Schäuble (am 26. April 2020 im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel). Auch er teilt die Hoffnung der Umweltbewegungen und fordert, die in der Krise liegende Chance für ein klimapolitisches Umdenken zu nutzen:

„Hoffentlich werden uns nicht wieder nur Abwrackprämien einfallen, die es der Industrie ermöglichen, weiter zu machen wie bisher. […] Wir werden strukturelle Veränderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erleben. Ich hoffe, dass wir das als Chance nutzen, um manche Übertreibungen besser zu bekämpfen.“ (Wolfgang Schäuble im selben Interview).

Statt sich in Differenzen zu verlieren, könnten verschiedene Umweltbewegungen nun die Chance ergreifen, gemeinsam und konstruktiv Konzepte zu unterstützen, die die Richtung weisen auf dem Weg zu einer klimaverträglichen Wirtschaft – einer Wirtschaft, die die Grenzen unseres Planeten respektiert.


2. Abschaffung der Demokratie?

Die Bürger:innenversammlungen, die XR Deutschland etablieren will, haben keineswegs das Ziel, die parlamentarische Demokratie zu ersetzen, sondern sie sind vielmehr eine Ergänzung, um den Schwächen unseres demokratischen Systems – wie Fraktionszwänge, Lobbyismus oder wahltaktische Erwägungen - kompensierend entgegenzuwirken.

Die Auswahl der Mitglieder dieser Bürger:innenversammlungen wird auch nicht – wie Ihr Text den Anschein erweckt – allein dem Zufall überlassen. Nicht ausschließlich ein Losverfahren entscheidet über die Zusammensetzung, sondern hinzu kommt ein Quotensystem, das gewährleistet, dass die Versammlung (hinsichtlich Merkmalen wie z. B. Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungsniveau) die gesamte Bevölkerung repräsentiert.

Weitere Informationen zu Struktur und Organisation von Bürger:innenversammlungen nach dem Konzept von XR Deutschland finden Sie auf dieser Website („Forderungen“) sowie in einem Blogbeitrag vom 7. April.

In Ihrer Richtigstellung in der Frankfurter Rundschau hinsichtlich der Bürger:innenversammlungen verweisen Sie als Quelle auf einen Text von Roger Hallam, der zwar zu den Gründer:innen von Extinction Rebellion gehört, inzwischen aber nicht mehr die Meinung der Bewegung repräsentiert. Vergangenen November hat sich XR Deutschland in aller Deutlichkeit von Roger Hallam distanziert (s. Blogbeitrag vom 28.11.2019). Wie Sie einem erst kürzlich hier erschienenen Beitrag entnehmen können, wurde dies mit Abschluss des - gescheiterten - "Restorative Prozesses" noch einmal bestätigt.


3. „Panikmache“?

Brennende Arktis, massenhaftes Artensterben, Meeresspiegelanstieg, Überfischung, Regenwaldrodungen, Hitzewellen, Überschwemmungen, Stürme, Dürren … - Viel lieber wäre es mir, wenn das alles nur reine „Panikmache“ wäre – doch es sind leider deutlich sichtbare und konkret nachweisbare Realitäten.

XR beruft sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und weist auf Zusammenhänge hin, die heute kein ernstzunehmender Klimawissenschaftler mehr bestreitet. Es war nicht immer so, doch mittlerweile ist sich der ganz überwiegende Teil der seriösen Klimaforschenden darin einig, dass die klimatischen Veränderungen, die wir gegenwärtig global erleben, von Menschen gemacht sind und dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Klimakatastrophe zusteuern, wenn nicht umgehend gravierende und wirksame politische Maßnahmen ergriffen werden, um die verheerenden Folgen des Klimawandels einzudämmen.

Untersuchungen deuten darauf hin, dass nicht zuletzt auch die aktuelle Viruskrise ein Symptom ausufernder Zerstörung natürlicher Lebensräume ist. Mit zunehmender Vernichtung von Ökosystemen steigt die Wahrscheinlichkeit von Pandemien. Und es gibt ernstzunehmende Hinweise, dass die Feinstaub-Belastung der Atemluft das Sterberisiko von an Covid-19 Erkrankten erhöht.

Keineswegs geht es XR darum, Ängste zu schüren oder gar Panik zu erzeugen, sondern um das genaue Gegenteil davon: Nicht um Angst geht es, sondern um Mut - darum, wissenschaftlich fundierte Fakten nicht nur zu benennen und die Menschen für den Klimawandel und seine Folgen zu sensibilisieren, sondern sie damit gleichzeitig auch zu ermutigen, durch entschlossenes Handeln Einfluss zu nehmen auf politische Entscheidungen. Wenn furchteinflößende Fakten benannt werden und Menschen angstgenerierte lähmende Blockaden überwinden, wirkt dies einem diffusen Angstgefühl doch gerade entgegen. Viele XR-Aktivistinnen und Aktivisten haben mir gesagt, dass sie mit ihren Ängsten produktiver umgehen können, seit sie sich aktiv politisch engagieren - weil sie dadurch erleben, dass sie der Situation und politischen Prozessen nicht machtlos ausgeliefert sind, sondern „etwas bewegen“ können.


4. „Ökopopulismus“?

In der anderen Krise, in der wir uns aktuell befinden, der Covid19-Pandemie, erleben wir gerade, dass eine große Mehrheit der Menschen durchaus bereit ist, ganz erhebliche Einschränkungen ihrer Freiheiten (sogar fundamentaler demokratischer Grundrechte!) zu akzeptieren, wenn ihnen die Dringlichkeit einer konkreten Bedrohungslage unmittelbar bewusst ist. Die gegenwärtig geltenden Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie verlangen seit Wochen weltweit jedem Einzelnen Beschränkungen ab, die weitaus drastischer sind als dies Maßnahmen für eine nachhaltige Klimapolitik erfordern würden.

Dabei sind die rasant fortschreitenden klimatischen Veränderungen auf unserem Planeten wahrscheinlich gefährlicher als das Coronavirus. Wenn XR so nachdrücklich auf den Ernst und die Dringlichkeit der – leider sehr konkreten und realen - Bedrohungslage angesichts des Klimawandels hinweist, dann nicht nur deshalb, um die Situation, in der wir uns alle befinden, bewusst zu machen, sondern vor allem auch, um damit die Menschen zum Umdenken zu bewegen und zum Handeln zu motivieren. Nur so kann der erforderliche Druck auf die politischen Entscheidungsträger:innen entstehen, damit endlich wirksame Schritte möglich werden, ohne die der drohende Klimakollaps vielleicht nicht mehr abgewandt werden kann.


5. Extinction Rebellion eine „Sekte“?

Sekte - Dieser Begriff taucht im Titel Ihrer Kolumne auf, und er beendet sie. Dazwischen suche ich vergeblich nach Begründungen für diese Unterstellung. Der Vorwurf ist ja nicht neu, eine überzeugende oder auch nur nachvollziehbare Argumentation hierfür habe ich indes immer vermisst. Ich kann bei Extinction Rebellion keinerlei Anhaltspunkte oder Merkmale finden, die einen solchen Vergleich rechtfertigen würden.

Weder wird XR von einem Guru angeführt noch werden Mitglieder finanziell in irgendeiner Weise in Anspruch genommen. Dass die Bewegung - auf Außenstehende wie Beteiligte - manchmal etwas chaotisch und unorganisiert wirkt, ist ja gerade der Tatsache geschuldet, dass sie durch und durch dezentral strukturiert ist. Der Umgang mit Konflikten ist so offen, dass manche Rebell:innen es mitunter als etwas anstrengend empfinden. Sich bei Extinction Rebellion zu engagieren, kostet kein Geld, es kostet „nur“ Zeit. Doch jeder, der bei XR-Aktivitäten mitwirken will, kann frei entscheiden, wieviel Zeit er oder sie dafür investieren kann und will, und jeder kann jederzeit sein Engagement beenden, ohne nachteilige Konsequenzen irgendwelcher Art befürchten zu müssen. Etwas anderes habe ich jedenfalls nie gehört.


6. „Staying Alive“

Das Foto, das Ihre Kolumne illustriert, zeigt die Momentaufnahme einer Performance der Berliner XR-„Discobedience“-Gruppe bei der diesjährigen Berlinale. Dies ist nur ein Beispiel für die mannigfaltigen Formen, in der XR-Klimarebell:innen ihren Protest zum Ausdruck bringen – bildgewaltig und dabei prinzipiell gewaltfrei.

„Discobedience“ ist inzwischen zu einem weltweiten Phänomen geworden, in dem sich Heiterkeit und Ironie mit großer Ernsthaftigkeit vereint. Zum Konzept dieser Aktionen gehört es, Lebensfreude zu zelebrieren und zugleich – bei allem Spaß an der Sache - auf das ganz konkret stattfindende massenhafte Artensterben auf unserem Planeten als Folge des fortschreitenden globalen Klimawandels aufmerksam zu machen. In fantasievollen Kostümen, die ausgestorbene Tierarten repräsentieren, kombinieren die Akteure „Die In“-Performances mit choreographierten Tanzsequenzen – zu den Klängen einer textlich auf das Klimathema zugeschnittenen Version des 1970er Discohits der Bee Gees: „Staying Alive“.

Die Aktionen von Extinction Rebellion sind in ihrer Ausgestaltung so vielfältig und verschieden wie ihre Protagonist:innen. Viele Menschen, die solchen Performances zufällig in ihrem Alltag begegnen, sind spontan begeistert von der Kreativität, Energie und Entschlossenheit, die sie dort erleben, von Enthusiasmus, Humor und Esprit, von Freundlichkeit, Respekt und Gewaltfreiheit. Andere lehnen solche Formen von politischem Aktivismus prinzipiell ab, versuchen, ihn lächerlich zu machen oder fühlen sich davon gestört - und Sie müssen damit ja auch nicht sympathisieren. Was das alles aber mit Panikmache, Demokratiefeindlichkeit oder Ökopopulismus zu tun haben soll – oder gar mit einer Sekte – lieber Klaus Staeck, es will sich mir beim besten Willen nicht erschließen.


Mit freundlichen Grüßen

Birgitta Wolf

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