Wir fahren diesen Planeten gerade an die Wand
Göttingen muss dem ökologischen Kollaps entschlossen entgegentreten
Göttingen, 1. August 2020
In einem kürzlich erschienenen Artikel auf einem Blog der Stadt Göttingen kommentiert Florian Heinz das jüngste Gespräch zwischen Extinction Rebellion Göttingen und Vertreterinnen der Stadtverwaltung (Nina Winter und Dinah Epperlein). In dem Artikel gibt Herr Heinz ein kurzes Porträt von Frau Epperlein, erklärt die Namensgebung des kommenden „Klimaplan 2030“ aus Verwaltungs-Fachsprachlicher Sicht, spricht über das „Controlling“ der Göttinger Klimastrategie und lobt die Bürger:innenbeteiligung der Stadt im aktuellen Fortschreibungsprozess des Klimaplans. Hier antwortet Johannes Brachem aus der Göttinger Ortsgruppe von Extinction Rebellion.
Lieber Herr Heinz,
ich rätsele etwas darüber, was die Botschaft Ihres Blog-Eintrags sein soll. Ist es: „Beruhigen Sie sich, die Verwaltung hat alles im Griff“? Als Mitarbeiter der Verwaltung ist es verständlich, diese Botschaft senden zu wollen. Leider haben Sie unrecht. Seit 2014 stagnieren Göttingens Treibhausgasemissionen. Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch lag 2018 bei 7 %[1]. Der Energieverbrauch steigt, anstatt zu sinken. Das geht aus dem Zwischenbericht zur Evaluation des „Masterplans“ hervor. Wir haben an anderer Stelle ausführlich Stellung zur bisherigen Bilanz und zur geplanten Fortschreibung bezogen. Die krassen Zielverfehlungen werden auf der Klimaplan-Website nur beiläufig und sehr schwammig erwähnt. Die Website vermittelt den Eindruck, Göttingen sei insgesamt auf einem guten Weg. Es ist eine Gute-Laune-Website, auf der die Dringlichkeit der Lage und die Drastik der notwendigen Transformation keinen Platz haben.
Die Nachbarstädte Kassel und Marburg zeigen, dass es anders geht: Beide erklärten schon im Sommer 2019 den Klimanotstand und verfolgen nun Pläne, bis 2030 klimaneutral zu werden. Göttingen ist nicht einmal auf dem Weg, bis 2050 klimaneutral zu werden und hat bisher keine Ambitionen kommuniziert, das Ziel zu verschärfen.
Die mit dem Thema betrauten Verwaltungsmitarbeiter:innen, Sie eingeschlossen, tun mit Sicherheit ihr Möglichstes. Wir teilen auch die Hochachtung für Frau Epperleins außerordentliches Engagement. Doch die Transformation Göttingens zu einer klimaneutralen Stadt darf nicht auf den Schultern von wenigen Einzelpersonen abgeladen werden. Das ist in etwa so, als würden drei Menschen mit der Aufgabe betraut, ganz Göttingen zu dritt mit frischem Gemüse zu versorgen: Eine spektakuläre Unterschätzung der Aufgabe. Deshalb ist das Wirken von XR nicht als Kritik des persönlichen Einsatzes der verantwortlichen Mitarbeiter:innen der Verwaltung zu verstehen. Sie sind in einer schwierigen Situation und müssen aus begrenzten Ressourcen das Beste machen. Unsere Absicht ist, die Dringlichkeit und die Dimension der Aufgabe geradezurücken. Die Klimakrise darf nicht weiter wie ein Problem unter vielen behandelt werden, sie lässt sich nicht auf die gleiche Weise lösen, auf die Bebauungspläne beschlossen werden. Verwenden Sie deshalb Ihre Energie bitte nicht darauf, Klima-Aktivist:innen und der Öffentlichkeit zu suggerieren, es sei alles nicht so wild. Erklären Sie lieber, wann immer sie können, wie ernst die Lage wirklich ist. Das offen auszusprechen bedeutet nicht, dass Sie das Problem alleine lösen müssten. Um die Klimakrise zu bewältigen, müssen vielmehr die notwendigen Planungs- und Umsetzungsressourcen freigesetzt werden, um eine echte, grundlegende Transformation zu schaffen.
Wie sieht es aus mit dem Klima? Bei aktuellem Tempo der Emissionen bleiben noch ca. 7 Jahre und 5 Monate, bis das CO2-Budget für eine 66 %-Chance auf Einhaltung des 1,5°-Ziels aufgebraucht ist. Warum ist das 1,5°-Ziel so wichtig? Die Gefahr, unumkehrbare Kipppunkte des weltweiten Ökosystems auszulösen, steigt mit jedem Zehntelgrad zusätzlicher Erwärmung. Es drohen sowohl ein Dominoeffekt – eine sich immer weiter selbst verstärkende Erwärmung –, als auch unwiderrufliche Schäden an den Ökosystemen, die unsere Lebensgrundlagen sichern. Die Risiken, die daraus entstehen, sind existenziell: Durch zunehmende Naturkatastrophen wie Stürme, Dürren und Überflutungen werden gesellschaftliche Konflikte verschärft. Millionen Menschen werden zur Flucht gezwungen. Hans-Joachim Schellnhuber, einer der weltweit renommiertesten Klimaforscher, formuliert das so:
„Wir rasen wirklich auf eine Wand zu, und der Crash könnte letztlich das Ende unserer Zivilisation herbeiführen.“
Wegen dieser gewaltigen Bedrohung erklärten über 11.000 Wissenschaftler:innen im November 2019: Die Welt befindet sich in einem Klima-Notfall. Und dieser Notfall geht nicht mehr weg, sondern wird mit jedem Tag drängender. Wir haben bei COVID-19 gesehen, dass wirksame Notfall-Reaktionen möglich sind. Das ist auch in Bezug auf die Klimakrise notwendig, muss aber gerechter und demokratischer ablaufen. Es mag viele Wege geben, die zu angemessenem klimapolitischen Handeln führen. Wir schlagen dem Oberbürgermeister und dem Stadtrat einen Weg vor, der auf umfassender Information, beherzter Zielsetzung und einer Vertiefung der Demokratie fußt:
1) Göttingen muss den Klimanotfall ausrufen und erklären. Das bedeutet, dass der Göttinger Bevölkerung die Bedrohung durch die Klimakrise aktiv und unmissverständlich deutlich gemacht werden muss. Die Bedeutung einer schonungslosen Informationskampagne kann nicht unterschätzt werden. Mit der Ausrufung des Klimanotfalls würde Göttingen sich 80 deutschen Kommunen, der französischen und britischen Regierung und dem europäischen Parlament anschließen. Alle Entscheidungen und Planungen der Stadt müssen außerdem auf ihre Vereinbarkeit mit dem Erreichen der Pariser Klimaziele hin geprüft werden, nur Vereinbares darf beschlossen werden.
Ein erster Schritt zu mehr Aufklärung wäre: Bauen Sie Ihre Website um. Zeigen Sie die CO2-Uhr, den Göttinger CO2-Ausstoß und den Anteil erneuerbarer Energien. Verlassen Sie das Gute-Laune-Thema. Zitieren Sie vielleicht eher die Wissenschaftsakademie Leopoldina:
„Eine nationale, nachhaltige und glaubwürdige Klimapolitik ist ein wesentlicher Schritt, um den sich abzeichnenden ökologischen und zivilisatorischen Systemkollaps zu verhindern.“
Stellen Sie die angestrebten Ziele glasklar dem bisher Erreichten gegenüber. Auch das gehört zu richtigem Controlling.
2) Göttingen muss bis 2025 Klimaneutral werden. Die Zeit ist knapp und das Risiko des Scheiterns ist groß. Deshalb muss Göttingen sich ein ambitioniertes Ziel setzen. So ambitioniert, dass es unrealistisch klingen mag – aber wir befinden uns in einem Notfall, und es ist nicht weniger als eine Vollbremsung erforderlich. Für eine 66 %-ige Chance auf Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels müsste Klimaneutralität 2030 erreicht werden. Um das Risiko katastrophaler Folgen so gering wie möglich zu halten und weniger industrialisierten Ländern Zeit zu geben, tritt Extinction Rebellion für Klimaneutralität bis 2025 ein. Die Klimakrise ist ein Notfall und erfordert Notfallmaßnahmen.
3) Die notwendigen Maßnahmen müssen durch einen Bürger:innenrat beschlossen werden. Das aktuelle Beteiligungsverfahren zur Fortschreibung des Klimaplans setzt auf die individuelle Einreichung einzelner Ideen. Die Ideen umfassen in der Regel ca. 2 bis 5 Sätze und werden mit ebenso kurzen Antworten der Verwaltung bedacht. Von dieser mutlosen Form der Bürger:innenbeteiligung ist weder transformativer Schwung, noch gesellschaftliche Legitimation zu erwarten; sie ist nicht mehr als ein PR-Gag. Eine so umfassende Transformation wie diejenige, die für schnelle Klimaneutralität notwendig ist, erfordert aber außerordentlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Dafür muss Göttingen mutige neue Wege gehen und die Bürger:innen in einem repräsentativ durch Zufall zusammengesetzten und von Expert:innen beratenen Bürger:innenrat selbst über den Plan für die Transformation beraten lassen (mehr dazu bei Mehr Demokratie e.V. und auf der XR-Homepage). Bürger:innenräte haben das Potential, dieser Aufgabe gerecht zu werden, wie das französische Beispiel zeigt. Ein solcher Bürger:innenrat wäre in Legitimation und Anspruch nicht im Geringsten mit den bisherigen „Veranstaltungen und Workshops“ der Stadt vergleichbar.
Die drei oben beschriebenen Forderungen wurden übrigens auch im Beteiligungsverfahren der Stadt eingereicht. Die Antwort der Stadt enthält keinen Bezug zur ersten und zweiten Forderung. Für die dritte Forderung, die Einberufung eines Bürger:innenrats, wurden wir auf den Projektwettbewerb verwiesen. Dort kann man für eine Projektidee 1000€ gewinnen. Damit galt die Bearbeitung der Einreichung als abgeschlossen. Die Antwort zeigt die Zahnlosigkeit des Beteiligungsverfahrens und zeugt von fehlendem Verständnis: Ein Bürger:innenrat muss mit entsprechender Vorbereitung vom Stadtrat einberufen und professionell organisiert werden, damit er echte Wirkung zeigen kann. Wenn man sich intensiver mit dem Vorschlag beschäftigt (siehe Weblinks oben), wird die Tragweite vielleicht klarer, so dass man versteht, warum selbst Wolfgang Schäuble (CDU) ein Fan der Idee von Bürger:innenräten ist.
Mit besten Grüßen
Johannes Brachem
Aktiv in der Göttinger Ortsgruppe von Extinction Rebellion
[1] Der Anteil am Endenergieverbrauch lag bei 4 %.