Wir haben alles und nichts gewonnen

Geschrieben von Nils Urbanus am 23.05.2022

Wann haben wir eigentlich gewonnen? Die Klimakrise ist so gigantisch und greift so tief in die Wurzeln unseres Systems, wie kann man da eigentlich wissen, wann wir "es geschafft" haben? Immerhin hat man beim Klima eine direkte Ursache: Treibhausgase. Beim globalen Artensterben ist das ja nochmal komplizierter, die Gründe sind deutlich vielfältiger, die Maßnahmen umso tiefgreifender.

Was wir verlangen, ist etwas, an dem sich schon Generationen über Generationen von Menschen die Zähne ausgebissen haben: Ein Systemwandel. Und der scheint meist überwältigend und unerreichbar zu sein. So groß und komplex, dass wir uns dabei schwer tun zu sehen, was wir schon erreicht haben. Und das ist ne ganze Menge.

In den 3,5 Jahren, die Extinction Rebellion jetzt existiert, hat sich die Welt schon ordentlich verändert.

Wir haben einiges erreicht

1 – Wir haben Alarm geschlagen

Die erste dicke Veränderung war, wie innerhalb kürzester Zeit weltweit die Klimagerechtigkeitsbewegung stärker denn je aufgetreten ist. Selbst in meinem sonst sehr unpolitischen Heimatdorf kam es Anfang 2019 zu einer Fridays-For-Future-Demo und Ende 2019 sogar zu einer XR Ortsgruppe.

Die Klimakrise hat sich dank den Protesten von einem Nischenthema zu einem Thema entwickelt, das nicht mehr ignoriert werden konnte und bis heute nicht mehr ignoriert werden kann, weil die Proteste plötzlich überall waren. Und auch wenn die politischen Aktionen inzwischen wieder kleiner sind als v.a. 2019 – in der "Honeymoon-Phase" – sind sie doch größer als vor dieser Welle, und wir haben es geschafft, trotz einer weltweiten Pandemie das Thema oben zu halten und Klimakiller verantwortlich zu halten. Selbst wenn Demos verboten waren, haben wir mit Platzparks oder der Rebellion Of One die Klimakrise in den Köpfen gehalten.

Und das zeigt sich inzwischen auch im öffentlichen Diskurs:

2 – Wir haben den Diskurs verändert

Der erste Schritt dabei, eine Krise zu bekämpfen, ist, sie überhaupt anzuerkennen. Und klar, Umweltverschmutzung und die "Erderwärmung" wurden schon lange als Probleme gesehen, aber eher als Luxusprobleme am Rand. Dass wir uns in einer existenziellen Krise – einem Notstand – befinden, kam erst vor kurzem auf.

Keine zwei Wochen, nachdem Extinction Rebellion April 2019 (vor allem in London) die erste große "Rebellion Wave" hatte, rief das britische Parlament den Klimanotstand aus. Angetrieben von den Protesten vieler Organisationen, aber hauptsächlich Fridays For Future und Extinction Rebellion, wurde bei etlichen Kommunen, Parlamenten und Institutionen eine Welle ausgelöst, den Klimanotstand auszurufen und die Katastrophe anerkennen. Der erste Schritt ist damit bei vielen jetzt getan.

Aber auch ganz allgemein haben wir den gesamten Diskurs verändert. Anstatt Begriffen wie "Erderwärmung" und "Klimawandel", die andeuten, es ginge um was Langsames, Gemächliches, kamen nun immer mehr "Klimakrise", "Klimakatastrophe" oder "Erderhitzung" zum Einsatz. Die Krise ist in den Köpfen und Titelseiten halbwegs angekommen.

Das ist nicht nur eine persönliche Erfahrung, sondern zeigt sich auch in Zahlen: Die deutschen Medien berichten seit 2019 deutlich häufiger über die Klimakrise als davor, und das hält sich – trotz Corona – bis heute durch! Auch in der Bevölkerung wird das Klimathema seit 2019 als eines der drängendsten Probleme wahrgenommen, während es davor eine absolute Randrolle hatte.

Den Diskurs haben wir komplett verändert. Und das ist die Grundlage dafür, dass gehandelt wird. Und inzwischen passiert auch das schon:

3 – Wir haben die Demokratie verbessert

Bürger:innenräte waren vor 2019 ein ziemliches Nischenthema. Dass XR als Bewegung mit nur 3 (!) minimalistischen Forderungen gerade einen Bürger:innenrat (bzw. eine Bürger:innenversammlung) forderte, war absolut ungewöhnlich, und bis heute ist Extinction Rebellion (neben NGOs) die einzige Bewegung, bei der Bürger:innenräte zentraler Bestandteil ihrer Forderungen sind und die damit bis ins Herz der Politik gestochen hat.

Denn unsere dritte Forderung wird langsam aber sicher zur Realität! In Berlin wurde jetzt ein solcher Bürger:innenrat zum Klima einberufen, und auch im Saarland wird einer innerhalb diesen Jahres Realität werden! Auf Bundesebene kamen jetzt auch klare Bekenntnisse zu Bürger:innenräten (nur noch nicht, ob es einen zum Klima und Artensterben geben wird).
Und das ist absolut geil! Denn am ehesten können wir für politischen Wandel sorgen, wenn wir die Institutionen verändern, und Bürger:innenräte sind dafür der perfekte erste Schritt.

Dabei können wir neben den ganzen Vereinen und NGOs wie "Mehr Demokratie e.V." auch uns auf die Schulter klopfen, dass sie endlich auch in Deutschland Wirklichkeit werden!

4 – Wir haben viele kleine Erfolge errungen

Dazu kommen noch die zahllosen kleinen Erfolge, die vor allem die Ortsgruppen zusammen mit anderen errungen haben. Die hören sich vielleicht erst klein an, summieren sich aber schnell auf, ob z.B. Coca-Cola seine neue Quelle in Lüneburg doch nicht erschließt oder dass HeidelbergCement immer öfter schlechtere Presse zu ihren Emissionen abkriegt.


Wir haben einiges zu erreichen

Die letzten Jahre hat sich so viel verändert, aber leider nicht genug. Viele sind frustriert, geben auf, sind ausgebrannt... Viele sagen, XR sei tot. Genau das gleiche höre ich von Fridays-For-Future-Menschen über ihre eigene Bewegung. Das Interessante: das ist stinknormal für eine soziale Bewegung!

Ich habe da gut reden, mit meinen gewaltigen 21 Jahren war ich nicht in besonders vielen sozialen Bewegungen aktiv. Deshalb will ich stattdessen auf Bill Moyer verweisen, der viele (hauptsächlich US-amerikanische) Proteste begleitet hat und dem ein ähnlicher zeitlicher Verlauf bei den Bewegungen auffiel. Diesen Verlauf fasste er schließlich zu einem Plan zusammen, dem "Movement Action Plan". Inspiriert dazu wurde er bei einem Treffen mit den Clamshell Activists, einer Gruppe, die 1977 mit 1414 Menschen den Bau des Seabrook Kernkraftwerks blockierten und damit die Anti-Kernkraft-Bewegung in den USA im Grunde startete. Support-Demonstrationen tauchten schnell im gesamten Land auf, und in den folgenden Monaten gründeten sich hunderte von neuen Anti-Atomkraft-Graswurzel-Bewegungen. Zwei Jahre nach dieser Aktion traf Bill Moyer einige Organizer der Gruppe und war sehr verwundert:

"An jenem Freitagabend erwartete ich eine temperamentvolle, optimistische Gruppe, die stolz auf ihre Leistungen war. Ich war schockiert, als die Clamshell-Aktivist:innen mit gesenktem Kopf, entmutigt und deprimiert ankamen und sagten, ihre Bemühungen seien vergeblich gewesen. Die Clamshell-Erfahrung der Entmutigung und des Zusammenbruchs ist alles andere als ungewöhnlich. Innerhalb weniger Jahre nach dem Erreichen der Ziele des "Aufbruchs" hat jede größere soziale Bewegung der letzten 20 Jahre einen bedeutenden Zusammenbruch erlebt, bei dem die Aktivisten glaubten, dass ihre Bewegungen gescheitert waren, die mächtigen Institutionen zu mächtig waren und ihre eigenen Bemühungen vergeblich waren. Dies geschah selbst dann, wenn die Bewegungen eigentlich recht gut auf dem normalen Weg vorangekommen waren, den frühere erfolgreiche Bewegungen eingeschlagen hatten!"

Und etwas ganz ähnliches nehme ich bei uns und fast der gesamten Klimagerechtigkeits-Bewegung wahr. Wir haben diese Welt enorm verändert, und es wird Zeit, dass wir das auch anerkennen. Wir sollten uns nicht zu sehr selbst geißeln, wenn gerade nicht viele aktiv sind. Oder wenn wir das Gefühl haben, dass unsere Proteste im Nichts verlaufen.

Wir sollten anerkennen, dass diese Phasen zu einem normalen Verlauf einer sozialen Bewegung dazugehört.

Der Wandel hat gerade erst begonnen

Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, aber kaum etwas hat mir klarer gemacht, welche Aufgabe wir jetzt haben:

"Ich kann den Wind nicht wecken, der uns oder dieses Schiff in eine bessere Welt bringen wird. Aber ich kann zumindest das Segel aufspannen und den Wind, wenn er denn kommt, fangen."

2019 herrschte ein gigantischer Wind, der uns alle mitgerissen hat. Damals war unser Segel klein, vieles war zusammengeschustert, es gab ohne Ende auslaugende Grundsatzdebatten, und Rollen, Strukturen usw. mussten erst mit viel Aufwand geschaffen werden. Jetzt herrscht wenig Wind, aber unser Segel ist groß und stark. Wir sind unglaublich professionell aufgestellt, haben in den 3,5 Jahren viel dazugelernt und ein breites Netzwerk aufgestellt, das wir bei viel Wind jederzeit mobilisieren könnten.

Was jetzt entscheidend ist, ist der Wind, und der wird ausgelöst durch ein sogenanntes Triggermoment. Das sind diese kurzen Zeiträume, in denen unser Thema plötzlich wieder für gigantische Mengen an Menschen interessant wird und Menschenmengen mobilisierbar sind, die wir uns in der Größe gerade gar nicht vorstellen können. Diese Momente können ganz unterschiedlich aussehen und kommen bei sozialen Bewegungen gefühlt immer aus dem Nichts, wie eben die Proteste 2019.


Das "Gute" an der Klimakrise ist, dass sie mit immer häufigeren und heftigeren Naturkatastrophen diese Triggermomente von selbst immer öfter hervorbringt. Wir können uns allerdings nicht darauf verlassen, dass eine Naturkatastrophe in Deutschland automatisch zu Klimaprotesten führen wird (z.B. ist das bei dem Verhängnis im Ahrtal 2021 nicht passiert). Damit das klappt, müssen wir in solchen Momenten schnell und überlegt handeln können.

Außerdem dürfen wir uns nicht auf solche Katastrophen "verlassen", sondern müssen auch selbst versuchen, diese Triggermomente zu schaffen. Das bedeutet viel Herumprobieren mit Aktionsformen und Narrativen, die sich dann von selbst replizieren könnten. So war das schließlich auch bei Gretas Protesten, deren Aktionsform (Schule schwänzen) und Narrativ (Warum soll ich für eine Zukunft lernen, die vielleicht nicht existiert) so leicht zu kopieren und durchzuführen waren, dass sie eingeschlagen haben wie eine Bombe.

Also lasst uns weiter herumprobieren und – egal, wie frustrierend die Zeiten sind – als Bewegung zusammenbleiben, um das Segel so hoch und breit aufzuspannen, dass es den Wind fangen kann und uns in eine bessere Welt bringt.💚

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