Reflexionen einer Ro1-Aktivistin
Merle Michaelsen war eine der mutigen Rebell:innen, die sich am 27. März allein auf eine Straße setzten und den Autoverkehr blockierten. Seit über einem Jahr engagiert sich die Göttinger Ärztin bei XR Familien.
Was hat sie motiviert, auch Teil der Rebellion of One zu werden? Wie hat sie das Geschehen erlebt? Welche Gedanken gingen ihr während der Aktion durch den Kopf und wie hat sie sich dabei gefühlt?
In ihrem berührenden Beitrag reflektiert Merle das Ereignis in Göttingen.
1 - Prolog
Warum machst du diese Aktion?
weil ich Angst habe
weil ich verzweifelt bin
weil ich wütend bin
weil ich Bock drauf hab
weil ich nicht mehr weiter weiß
weil ich frustriert bin
weil ich es meinen Kindern schulde
weil ich ein schlechtes Gewissen habe
weil ich privilegiert bin
weil ich es muss
weil ich es kann
weil sie krass ist
weil ich glaube, dass was passieren muss
um Leute zum Nachdenken zu bringen
weil ich irgendetwas tun muss
weil Corona ist
weil ich müde bin
weil es in mir schreit
weil die Welt untergeht
weil ich so oft stumm bin
weil ich nicht mehr gelähmt sein will
weil es eine Möglichkeit ist
weil ich nicht mehr kann
weil ich Hoffnung habe
weil ich aufrütteln will
weil Klimakrise ist
weil ich Angst habe
Wovor hast du Angst?
Vor den Folgen der Klimakrise.
Welche Folgen?
Hunger, Krieg, Verteilungskämpfe, Tote im Mittelmeer, moralische Last der Privilegierten, Verrohung der Gesellschaft, Ende der Zivilisation, Verlust jeglicher Menschlichkeit, Überlebenskampf.
2 - Aktion
Heute ist es soweit. Rebellion of One. Ich setze mich auf die Straße und stoppe den Verkehr. Allein. Auf einem Schild, das ich um meinen Hals trage, steht: „Ich habe Angst vor unzähligen Toten wegen der Klimakrise.“
Das erste Auto zwängt sich zwischen mir und der Häuserwand vorbei. Eine Radfahrerin schimpft. Das nächste Auto hält. Der Fahrer bittet mich freundlich, zur Seite zu gehen. Ich antworte, ich würde gern noch etwas sitzen bleiben.
“Wie lange?”
“So lange, wie Sie es mit mir aushalten.”
Da macht er den Motor aus und geht erstmal einkaufen.
Die nächsten Autofahrer:innen sind nicht mehr so freundlich. Ich werde beschimpft, mir wird gedroht, „keine Angst, ich fass Sie schon nicht an”. Die Polizei wird gerufen. Nur wenig später ist sie da, und ich werde schon bald froh drüber sein.
Die Polizist:innen begrüßen mich mit der Info, es gelte das Versammlungsrecht, da mehrere Blockaden gleichzeitig stattfänden. Das bedeutet, ich darf erst einmal auf der Straße sitzen bleiben. Zwei Autofahrer sind fassungslos. “Sie räumen die nicht weg? Die darf jetzt hier auch noch sitzen bleiben?” Einer sagt, man solle mir den Schädel eintreten. Die Polizei schreitet ein, droht mit einer Strafanzeige.
Versammlungsrecht! Das ist ein Geschenk, und ich weiß es zu schätzen. Es muss mindestens drei Aufforderungen geben, bevor eine Versammlung aufgelöst wird. Der Polizist und ich kennen die Spielregeln, und wir wissen voneinander, dass wir sie kennen.
Unterdessen bildet sich eine Traube um mich, die Passant:innen diskutieren miteinander, fast über mich hinweg, als wäre ich gar nicht da. Es geht um laufende Motoren und um Verkehrsbehinderung. Über die Folgen der Klimakrise oder mein Plakat redet eigentlich niemand.
Als die Polizei ankam, sagte eine Frau laut: “Aber inhaltlich hat sie doch recht!” Sie supportet durchgehend vom Fußweg aus.
„Eigentlich sollte man dir den Schädel eintreten.” - Ich bin erschüttert. Wieso glauben Menschen, sie könnten so etwas sagen? Vor allen.
Ich weiß, dass ich störe. Ich weiß, dass ich provoziere. Ich habe mit Wut gerechnet, mit Frust und Häme. Mag sein, dass es naiv ist, aber ich merke, dass ich nicht mit konkreter Gewaltandrohung gerechnet habe. Ich verstumme – weiß ich doch, dass ich mit Argumenten hier nicht weiterkomme. Dafür ist diese Aktion auch nicht gedacht. Es geht um die Störung. Es geht um die Störung. Ich sage es mir innerlich immer wieder auf, schotte mich dadurch von dem Geschehen auf der Straße ab.
Auf einmal geht ein Mann vor mir in die Hocke. Er sieht mir ins Gesicht: „Das ist sehr mutig, was Sie hier machen, Sie haben meinen vollen Respekt.” Fast verliere ich die Fassung. Ich versuche, Tränen zu unterdrücken und beginne zu zittern. Ich schaffe noch, mich zu bedanken, da ist er schon wieder weg. Ich fühl mich allein. Mit den Augen suche ich mein Team, das als Passant:innen getarnt um mich herum auf dem Fußweg steht.
Eine Frau in Grün kommt zu mir gelaufen, sie steht offenbar weiter hinten in der Schlange der Autos. Eine Schimpftirade geht los, was mir einfallen würde, sie müsse jetzt ihre Tochter abholen.
Ein Passant antwortet: “Ihre Tochter will auch eine Zukunft.”
Sie schimpft weiter.
“Ich habe auch Kinder”, möchte ich gerne sagen. Ich bleibe stumm. Hoffe, dass mein Schild genug sagt.
Als ich später die Aufnahmen meiner Rebellion of One ansehe, höre ich zum ersten Mal, dass applaudiert wurde, als ich aufstand und zum Streifenwagen ging. Mein Supportteam berichtet später von den vielen, vielen positiven Reaktionen, die sie auf den Gehsteigen erlebt haben. Ich muss mich ermahnen, sie mir ebenso oft in Erinnerung zu rufen wie die wütenden Stimmen.
Warum machst du diese Aktion?
Weil ich Angst habe.
Wovor hast du Angst?
Vor den Fragen meiner Kinder.
Welche Fragen?
„Wo warst du?“,
„Wie konntest du so weiter machen?“,
„Hast du nichts gewusst?“,
„Wie konntet Ihr?“
3 - Nachbereitung
Dieses war der mutige Teil. Am nächsten Tag folgt der unangenehme. Spätestens als der Youtube-Video-Schnitt von mir da ist, weiß ich: jetzt heißt es wirklich raus aus der Komfortzone. Dieses Video gehört geteilt. Ich merke, es ist das eine, sich allein auf die Straße zu setzen. Es ist noch etwas ganz anderes, den eigenen Kolleg:innen, Freund:innen und der Familie zu zeigen, dass man sich allein auf die Straße gesetzt hat.
Warum ist mir das so unangenehm? Ich will doch aufrütteln. Aber ich habe auch Angst. Vor ihren Urteilen. Und ich habe Angst, dass es nichts bringt. Zunächst werte ich jedes Schweigen als Ablehnung. Dann erreichen mich sehr viele Antworten, alle positiv. „Danke!” „Das ist mutig!” „Toll, dass du das machst.” Das macht mich froh.
Dann setzt die Ernüchterung ein. Und jetzt? So viel Zustimmung. Einige von denen waren auch schon mal beim Klimastreik. Und weiter? Eure Zustimmung macht mich ratlos. Und ich merke: Ich brauche nicht euren Applaus, ich brauche euch an meiner Seite.
Warum machst du diese Aktion?
Diese Aktion ist ein Hilferuf.
An alle, die noch nicht wissen, wie groß die Krise ist:
Informiert euch! Es ist ernst.
Es ist aber auch ein Hilferuf an alle, die das mit der Klimakrise schon verstanden haben:
Wir sind noch lange nicht genügend Leute auf der Straße. Wir können das nicht alleine. Wir brauchen euch. Bitte.
Ich weiß, dass es unbequem ist, aufwändig, zermürbend, frustrierend. Mein Weg muss nicht der eure sein. Nicht alle sind so privilegiert, sich ohne Angst vor struktureller Gewalt dem System in den Weg stellen zu können. Macht euch eure eigene Situation, eure Einschränkungen, aber auch eure Privilegien bewusst und findet euren Weg, aktiv zu werden.