Warum wir jetzt handeln müssen

Geschrieben von Richard Cluse am 20.10.2022

Aktion auf der Berliner Marschallbrücke am 5.3.2022. © Stefan Müller

Am 11.10. war die Gerichtsverhandlung von Richi vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Dem Ingenieur für Energie- und Verfahrenstechnik wurde eine Ordnungswidrigkeit vorgeworfen, weil er am 5. März 2022 an der Aktion „1,5 Grad“ auf der Berliner Marschallbrücke teilgenommen hatte. Er hatte einen Bußgeldbescheid erhalten und dagegen Einspruch eingelegt. Der Richter vertagte das Urteil auf einen weiteren Termin.

Hier ist Richis Statement, das er bei der Verhandlung vortrug:

Erklärung zum Vorwurf der Ordnungswidrigkeit

Zu meiner Person:

Richard Cluse, Dipl.-Ing. Energie- und Verfahrenstechnik, Master of Science Regenerative Energiesysteme.

Geboren 1967, zwei erwachsene Kinder.

Ich arbeite in einem Energie-Beratungsunternehmen an der Erstellung von Konzepten zur CO2-neutralen Energieversorgung von Industrie-Unternehmen.

„Tathergang“

Ich habe im Inneren des 1,5°-Zeichens gesessen (nicht geklebt oder angekettet). Der Aufforderung der Polizei, den Ort zu verlassen bin ich nicht gefolgt. Als der obere Aufbau abgesägt war, hat die Polizei gesehen, dass ich nicht fest bin. Ich wurde aufgefordert, aus der verbliebenen Struktur zu klettern. Dieser Aufforderung bin ich gefolgt, bin raus geklettert und wurde abgeführt.

Motivation

Meine Motivation für die Aktion war nicht Bosheit oder Gleichgültigkeit gegenüber Passant:innen oder Verkehrsteilnehmer:innen, sondern das Schaffen einer Öffentlichkeit (ARD Hauptstadtstudio, für den Verkehr wenig wichtige Marshallbrücke).

Für mich galt und gilt es, vor und während der Aktion abzuwägen:

Auf der einen Seite die Ordnungswidrigkeit und die Störung von Einzelpersonen: in diesem Fall sehr gering.

Auf der anderen Seite: Aufmerksamkeit für die existenzielle Bedrohung für den ganzen Planeten für tausende von Jahren.

Ich habe mich bewusst für die Ordnungswidrigkeit entschieden.

Das Gericht hat den Hintergrund der Aktion am 05.03. (also die Gefahrenlage) nicht berücksichtigt. Deshalb habe ich Widerspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt und diesen mit einer Stellungnahme meines Anwalts zum Thema „Ziviler Ungehorsam im Klimanotstand“ juristisch begründet.

Heute möchte ich in meinen Worten erklären, warum mein Handeln gerechtfertigt und notwendig ist und nicht bestraft werden sollte.

Hintergrund zur Aktion am 05. März 2022

Mit dem Übereinkommen von Paris im Jahr 2015/2016 hat sich Deutschland verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um den Anstieg der globalen Mitteltemperatur auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Im Frühling 2022 war klar, dass die Erderhitzung die 1,5 Grad im Jahr 2030 übersteigen wird.

Damit kommen wir in den Bereich der Erderhitzung, in dem die Kippelemente im globalen Klimasystem ausgelöst werden. Das Auslösen der Kippelemente führt zu weitreichenden unumkehrbaren Veränderungen im Erdklima mit katastrophalen Folgen für Mensch und Natur.

Mit der Gewissheit, dass die 1,5° Erderhitzung überschritten werden, wird auch überdeutlich, dass die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung nicht ausreichen, um die völkerrechtlich bindende Übereinkunft von Paris zu erfüllen.

Richi nach der Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten, Berlin, 11.10.2022. © Amelie/XR Berlin.

Das Vorgehen der Bundesregierung widerspricht nach meinem Rechtsverständnis auch dem Artikel 20a GG:

„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“

Dieser Artikel des GG wird von der Bundesregierung einfach ignoriert.

Jeden Tag wird deutlicher, dass die politischen Vorgaben der Regierung nicht ausreichen:

1.

Das kann ich in der Zeitung lesen (Wissenschaftler:innen kritisieren die Bundesregierung immer eindringlicher).

2.

Das sehe ich in meinem beruflichen Alltag: Je größer die Unternehmen, desto geringer die realen Energiepreise und der Druck, Energie/Emissionen zu vermeiden.

3.

Ich sehe vor meiner Haustür in Potsdam Dürre und das Ausbleiben von Frost, aber auch Kippelemente: In Potsdams Wäldern sind ca. 50 % der Buchen bereits tot.

Das Buchensterben war für mich der Auslöser, mich 2019 XR anzuschließen.

Seitdem hat sich die Klimakrise beschleunigt, aber nicht die Politik.

Im Gegenteil: Erdgas wurde im Sommer 2022 von der EU als nachhaltig eingestuft („Grünes Gütesiegel“ der EU für Erdgas).

Aktion auf der Berliner Marschallbrücke, 5.3.2022. © Stefan Müller.

Fazit:

Wir müssen mit ansehen, wie die Regierung uns mit hoher Geschwindigkeit auf einen Abgrund zusteuert.

Dieser Vorgang ist so ungeheuerlich und die Bedrohung so monströs, dass die meisten Menschen einfach die Augen verschließen, einfach ihre Arbeit machen, sich ins Privatleben zurückziehen.

In ca. drei Jahren wird sich aber das Zeitfenster zur Rettung des Planeten endgültig schließen.

Welche Handlungsweise ist in dieser Situation angemessen? Es drängen sich historische Vergleiche auf:

Wir alle respektieren die Widerstandskämpfer:innen gegen den Nationalsozialismus und andere Formen von Gewaltherrschaft, Unterdrückung und Verfolgung.

Wir wissen alle, dass diese Held:innen der Geschichte gegen geltende Normen verstoßen haben und verstoßen mussten.

Wir von XR haben die denkbar mildeste Form des Widerstands gewählt: Wir sind mit dem 1,5-Grad-Zeichen vor das ARD-Hauptstadtstudio gezogen, um dort auszuharren und auf die Situation aufmerksam zu machen.

Schlussbemerkung:

Die 1,5 Grad werden gerissen werden und die Kippelemente werden mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgelöst.
Das ist eine Zeitenwende.
In zehn, zwanzig und dreißig Jahren werden wir voll Reue an heute zurückdenken, weil wir nicht entschiedener gehandelt haben oder den Klimaschutz ignoriert oder zurückgestellt haben hinter Beruf und Freizeit oder hinter eine formale Vorgehensweise wie die Verurteilung wegen einer Ordnungswidrigkeit.

Ich möchte deshalb das Gericht bitten, die an der Aktion am 05.03.2022 beteiligten Personen nicht zu verurteilen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Wenn wir jetzt nicht handeln werden wir es für immer bereuen!

Deshalb mein Aufruf an alle Anwesenden:

Schließen Sie sich Extinction Rebellion oder Ende Gelände oder der Letzten Generation an!

Richi mit Unterstützer:innen nach der Verhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten, Berlin, 11.10.2022. © Amelie/XR Berlin.

Feedback