Der 1. Schritt zur Bürger:innenrepublik

Geschrieben von Heiko Erhardt am 13.08.2020

Bürger:innen in politische Entscheidungen mit einzubeziehen, ist nicht gerade das Lieblingsthema der meisten Politiker:innen. Der 175 Seiten starke Koalitionsvertrag von 2018 enthält dazu lediglich den wenig ambitionierten Ansatz einer "Expertenkommission, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann".

Das war vor Corona. In der Krise wurde offenbar, wie fragil unsere Demokratie inzwischen geworden ist. Politikverdruss und Wutbürger:innen kann man als Symptome eines Grundgefühls betrachten, dass sich viele Menschen von der Politik nicht mehr repräsentiert oder gar ausgeschlossen fühlen.

Am 18. Juni 2020 hat der Ältestenrat des Bundestags angekündigt, einen losbasierten Bürger:innenrat ins Leben zu rufen, der sich mit der "Rolle Deutschlands in der Welt" befassen soll.

Auch wenn es einige Kritikpunkte gibt, die wir bereits in einer Pressemitteilung zum Thema identifiziert haben, haben wir uns in der AG Bürger:innenversammlung von Extinction Rebellion über diesen Entschluss gefreut. Wir begrüßen die Entscheidung, den Bürger:innenrat an den wertvollen Erfahrungen des „Bürgerrats Demokratie“ zu orientieren, den der bundesweit tätige Verein „Mehr Demokratie e. V.“ 2019 in Zusammenarbeit mit mehreren Instituten und Stiftungen initiiert hatte.

Ich kann mich noch gut an die Rede von Wolfgang Schäuble anlässlich der Übergabe der Ergebnisse des „Bürgerrats Demokratie“ im September 2019 erinnern. Schäuble outete sich als glühender Verfechter der partizipativen Demokratie und gelobte, sich für das Thema einzusetzen. Es sieht so aus, als ob der Mann Wort gehalten hat. Und als ob er – gewiefter Politiker wie eh und je – einen durchaus geschickten Schachzug begonnen hat.

In einer Kampagne zum Thema Bürger:innenversammlung (letztlich ein Synonym zum Begriff Bürger:innenrat) im Mai 2020 hatte Extinction Rebellion per abgeordnetenwatch.de etwa 150 Politiker (vorwiegend Mitglieder des Bundestags) angeschrieben und nach ihrer Meinung zum Thema Bürger:innenversammlung befragt.

Neben einigen begeisterten Rückmeldungen von Politiker:innen, die sich bereits intensiv mit diesem Instrument beschäftigt hatten, zeigte es sich, dass politische Entscheidungsträger:innen noch mit Skepsis oder gar Unkenntnis über das Potential und die Wirksamkeit eines gut gemachten Bürger:innenrats reagieren. Dies war wohl der Grund dafür, dass sich die Macher:innen hinter dem Bürger:innenrat dazu entschieden haben, vor einen groß angelegten Bürger:innenrat zum Thema Klima und Umwelt einen relativ ‘kleinen’ Bürger:innenrat zu setzen - mit drei Monaten Dauer und einem Thema, das weniger emotional aufgeladen ist. Dies ist aus meiner Sicht bedauernswert, mag aber der Notwendigkeit geschuldet sein, politische Mehrheiten im Ältestenrat zu bilden. Vielleicht muss erst der Humus bereitet werden, bevor die dicken Bäume gepflanzt werden können. Der erste deutsche Bürger:innenrat ist eine Möglichkeit, Politiker:innen mit dem Instrument vertraut zu machen und den Nutzen aufzuzeigen, den es ihnen bringen kann.

Ein losbasierter Bürger:innenrat repräsentiert die Gesellschaft im Kleinen. Ein spezielles Losverfahren gewährleistet, dass gesellschaftliche Gruppen im selben Maße vertreten sind wie in der Gemeinschaft der Bürger:innen selbst. Die Bürger:innen erhalten ausgewogene Informationen zum Thema und diskutieren Ansichten und Handlungsoptionen in einem moderierten Prozess. Dabei findet ein Austausch statt zwischen Menschen aus unterschiedlichsten Lebenswelten und Kontexten, die sonst wohl keinen Kontakt miteinander gehabt hätten. Nicht selten ändern sich dabei festgefahrene Meinungen. Transparenz ist das oberste Gebot bei einem Bürger:innenrat. Internationale Erfahrungen belegen, dass die Bevölkerung die Überlegungen der Teilnehmer:innen eines Bürger:innenrats gut nachvollziehen kann – und dass das Verfahren dazu geeignet ist, kontrovers diskutierte "heiße Eisen" voran zu bringen. Eine jüngste Umfrage belegt, dass 60% aller Bürger:innen Frankreichs (bis zu 78% der jüngeren Generationen) den französischem Klima-Bürger:innenrat für legitimiert halten, Vorschläge im Namen aller französischen Bürger:innen zu unterbreiten. Dass damit zum Teil durchaus tiefgreifende Ansätze gemeint sind, haben die Teilnehmer:innen dieses Bürger:innenrats mit der Vorstellung der Ergebnisse im Juni bewiesen.

Ein gut gemachter Bürger:innenrat kann die Menschen wieder näher an die Politik und ihre gewählten Repräsentant:innen bringen und diesen wiederum einen unbeeinflussten, auf der Grundlage ausgewogener Informationen erarbeiteten und klar formulierten Bürgerwillen an die Hand geben. Vorwärts gerichtete Politiker:innen können diesen als Schild gegen den Einfluss der Lobbys nutzen und sich selbst aus der Schusslinie bringen, um wieder freier agieren zu können.

Peter Lindner von der Süddeutschen Zeitung wundert sich in seinem Kommentar, dass "der Bundestag ausgerechnet für den Erstversuch mit 'Deutschlands Rolle in der Welt' ein Thema ausgewählt hat, das von der Alltagsrealität vieler Menschen zum Teil weit entfernt ist" – und bezeichnet den Schritt dennoch als "großen demokratiepolitischen Fortschritt".

Ich meine, die Frage nach der Rolle Deutschlands in der Welt kann das wohl dringendste Problem dieser Zeit, die Umwelt- und Klimakrise, nicht außen vor lassen. Allerdings wurde das Thema breit gefasst und Ergebnis soll ein Bürger:innengutachten sein. Das lädt nicht gerade zu konkret durch den Bundestag umsetzbaren Handlungsempfehlungen ein. Dennoch: In dem Thema steckt bereits viel von den Herausforderungen, mit denen sich zukünftige Bürger:innenräte beschäftigen sollten. Insofern kann dieser erste Bürger:innenrat als eine Art "Warmlaufen" nicht nur mit dem Verfahren selbst, sondern auch mit dem Thema betrachtet werden.

Es bleibt abzuwarten, ob der Bürger:innenrat sich traut, auch zu umstrittenen Themen - wie internationale Handelsabkommen, Förderung alternativer Energieträger oder Waffenexporte - Empfehlungen auszusprechen, ganz zu schweigen vom Neudenken unserer Gesellschaft mit Ansätzen wie Konsumverzicht oder alternativen Wirtschaftssystemen. Es besteht die Gefahr, dass bei einem Bürger:innenrat ohne nennenswerte Ergebnisse der vertrauensbildende Effekt ins Gegenteil umkippt.

Auf der Grundlage eines erfolgreichen Erstlings können sich Bürger:innenräte auch komplexer und dringlicher Themen annehmen. Thema eines nachfolgenden "großen" Bürger:innenrats sollten aus meiner Sicht Maßnahmen gegen den Klimawandel und den ökologischen Kollaps sein. Dazu sind allerdings auch einige Herausforderungen zu meistern.

Grundlage ist eine offene und ambitionierte Fragestellung, die den Bürger:innenrat nicht einschränkt, sondern vielmehr beflügelt. In der Hinsicht ist das Thema "Deutschlands Rolle in der Welt" gar kein schlechter Aufschlag für den Erstling. Freilich wünsche ich mir für nachfolgende Bürger:innenräte Fragestellungen, die zu konkreten Ergebnissen einladen.

Deutlich verbesserungsfähig hingegen ist der Umgang mit den Ergebnissen des Bürger:innenrats. Statt eines Bürger:innengutachtens sollten konkrete Gesetzesvorlagen, die dem Bundestag vorgelegt werden, angestrebt werden.

Und ganz wichtig: Wie kann verhindert werden, dass der Bundestag, in dem Entscheidungen von parteitaktischen Überlegungen, Fraktionszwang und Lobbyismus beeinflusst sind, diese Ergebnisse nicht verschleppt, verwässert und letztlich in den Papierkorb befördert?

Hierzu braucht es den Druck von der Straße, von politischen Initiativen, von uns Bürger:innen, die endlich eine echte Chance haben wollen, mitzureden bei wichtigen politischen Entscheidungen.

Meine Vision ist letztlich eine vierte, beratende Gewalt im Staat: die Konsultative.
Damit meine ich einen fest installierten Bürger:innenrat (mit wechselnder Besetzung, versteht sich), der unserer demokratisch gewählten Regierung die dringend notwendigen Impulse und einen klaren Ausdruck des Bürgerwillens als Leitfaden für ihr Handeln vermitteln kann.

In Verbindung mit weiteren Maßnahmen zur Modernisierung unserer Demokratie – wie z. B. Onlineportale zur Bürgerbeteiligung, Transparenzgesetze oder ein wirksames Lobbyregister - hätte Deutschland auf jeden Fall eine führende Rolle in der Welt.

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