Göttingen, 07. September 2020
Die Klimakrise ist ein Notfall.
Wir fordern Sie auf, das anzuerkennen.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler,
sehr geehrte Fraktionen des Stadtrats Göttingen,
die Klimakrise ist ein Notfall von gewaltigem Ausmaß. Um einen Notfall bewältigen zu können, ist es unerlässlich, dass er als solcher erkannt und benannt wird, und dass Notfallmaßnahmen ergriffen werden, um eine Eskalation der Situation zu verhindern.
Wir kommen zu dieser Einschätzung auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und in Folge der Warnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Im Januar 2020 veröffentlichten 11.000 Forschende ihre Erklärung des Klima-Notfalls (i). Zuvor hatte im November 2019 eine Forschungsgruppe um Timothy Lenton gewarnt, dass neun der 15 bekannten klimasensitiven Kipp-Elemente des Erdsystems bereits heute Anzeichen von Aktivierung aufweisen (ii). Um das Schlimmste abzumildern, schreiben sie, muss das Abkommen von Paris eingehalten, also die globale Erhitzung auf 1,5 Grad beschränkt werden. Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler: „Dies erfordert Notfallmaßnahmen.“
Durch die Aktivierung von Kipp-Elementen kann die globale Erhitzung sich verselbstständigen, so dass uns Menschen die Macht entgleitet, sie auf ein Maß zu begrenzen, das bewältigt werden kann (iii). Das mögliche Resultat ist eine vier Grad wärmere Welt schon Ende dieses Jahrhunderts. Eine solche Erhitzung des Planeten entreißt unserer Zivilisation ihre Existenzgrundlagen. Die nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina warnt, bei einer glaubwürdigen Klimapolitik gehe es darum, „den sich abzeichnenden ökologischen und zivilisatorischen Systemkollaps“ zu verhindern (iv). Derweil entsprechen die weltweiten CO2-Emissionen nach aktuellstem Stand dem Worst-Case Szenario (v).
Die Regierungen in London und Paris, das Europäische Parlament und über 80 deutsche Städte und Gemeinden haben den Klimanotstand bereits anerkannt (vi). Darunter sind auch die Nachbarstädte Kassel und Marburg, die zudem ihre klimapolitischen Ambitionen deutlich erhöht haben und nun Klimaneutralität 2030 anstreben (vii).
Als „Stadt, die Wissen schafft“ fühlt sich Göttingen seit jeher der Wissenschaft eng verbunden und hält wissenschaftliche Werte hoch. Auch Sie, Herr Köhler, haben im April 2018 beim „March for Science“ gesagt, sie seien „mit Leidenschaft und Überzeugung dabei, wenn es darum geht, für die Wissenschaft Flagge zu zeigen“ (viii). Nun geht es nicht mehr nur darum, die Freiheit der Wissenschaft zu preisen, sondern die Wissenschaft ernst zu nehmen. Göttingen hat seine Emissionen seit 2014 nicht mehr weiter gesenkt, die Ziele des „Masterplan 100% Klimaschutz“ werden krachend verfehlt (ix). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schlagen Alarm, so laut sie können, damit die Politik auf die existenzielle Bedrohung durch die Klimakrise reagieren kann. Ihre Warnungen sollten nicht abgetan werden, denn die Folgen könnten für die Göttinger Bevölkerung ähnlich katastrophal werden, wie sie es andernorts schon heute sind.
Sie sind die demokratisch gewählten Repräsentatinnen und Repräsentanten der Göttinger Bevölkerung. Sie haben eine große Verantwortung. Deshalb fordern wir Sie, Herr Köhler, und die Fraktionen des Stadtrats Göttingen, auf:
Erkennen Sie den Klimanotfall an. Dazu gehört, dass der Göttinger Bevölkerung die Bedrohung durch die Klimakrise unmissverständlich, umfassend und systematisch kommuniziert werden muss. Alle Menschen müssen wissen, vor welcher Herausforderung wir stehen, und wie dringend notwendig die Veränderung unserer Lebensund Wirtschaftsweise ist.
Handeln Sie jetzt, um bis 2025 Klimaneutral zu werden. Das Ziel „Klimaneutralität 2050“ ist nicht vereinbar mit dem Pariser Klimaschutzabkommen. Für eine 66 %-ige Chance auf Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels müsste Klimaneutralität 2030 erreicht werden (x). Um das Risiko katastrophaler Folgen so gering wie möglich zu halten und der historischen Verantwortung Deutschlands für die Anhäufung von CO2 in der Atmosphäre Rechnung zu tragen, tritt Extinction Rebellion für Klimaneutralität bis 2025 ein: Die Klimakrise ist ein Notfall und erfordert Notfallmaßnahmen.
Beauftragen Sie einen Bürger:innenrat mit der Ausgestaltung der notwendigen Maßnahmen. Eine so umfassende Transformation wie diejenige, die für schnelle Klimaneutralität notwendig ist, erfordert außerordentlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Dafür muss Göttingen mutige neue Wege gehen und die Bürgerinnen und Bürger in einem repräsentativen, durch Zufall zusammengesetzten und von Expert:innen beratenen Gremium selbst entscheiden lassen, wie die Transformation vonstatten gehen soll. Jüngst gab die Stadt Bonn bekannt, dass sie ein solches Modell verfolgen wird, um ihre Klimapolitik neu aufzustellenxi.
Diese drei Schritte, in dieser Reihenfolge, können einen Weg zur Bewältigung der Klimakrise weisen: 1.) Den Notfall als solchen anerkennen, 2.) sofortiges Handeln, 3.) Ausgestaltung durch vertiefte Demokratie. Nichts davon ist nur angenehm, umsonst oder einfach. Aber es ist wichtig.
Unsere Werte und Überzeugungen entfalten erst dann ihre Bedeutung, wenn wir den Mut haben, nach ihnen zu handeln. Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht. Handeln Sie.
Extinction Rebellion Göttingen
i 11.000 Forscher warnen vor Klimanotfall (Tagesschau)
ii "Belege für planetaren Notfall" (Tagesschau)
iii Auf dem Weg in die "Heißzeit"? Planet könnte kritische Schwelle überschreiten (Potsdam Institut für Klimafolgenforschung)
iv Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. (2019). Klimaziele 2030 - Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der CO2-Emissionen. Halle (Saale).
v Erderwärmung folgt dramatischstem Szenario (Spiegel)
vi Klimaschutz- und Energieagentur Nds: „Kommunaler Klimanotstand“
vii Kassel,
viii Demonstration für die Freiheit der Wissenschaft in Göttinger Innenstadt (15.04.2018) HNA
ix Ausführliche Stellungnahme von XR Göttingen zum Klimaplan der Stadt
x Klimaneutralität kommt 2050 zwei Jahrzehnte zu spät (Klimareporter)
xi Breite Bürgerbeteiligung beim Klimaschutz – Rat beschließt Bürgerforen (05.09.2020)