Wir sind nur eine Art

Geschrieben von Manon Gerhardt am 03.05.2022

Anfang Mai sollte die 15. UN Biodiversitätskonferenz in Kunming, China, in die zweite Runde gehen. Der Termin wurde jetzt verschoben - weil andere Krisen wichtiger sind als das Artensterben. Aber können wir uns eine Priorisierung von Krisen leisten?

Das sechste große Massensterben der Erdgeschichte hat begonnen - und es ist menschengemacht. ​​​​​​​Doch noch haben wir die Möglichkeit, das Schlimmste zu verhindern, und zwar im eigenen Interesse: Diese Krise bedroht uns als Menschheit, denn wir sind auch nur eine Art! Unsere Existenz beruht auf der Artenvielfalt des Planeten. Wir dürfen diese existenzielle Gefahr trotz der aktuell bedrohlichen weltpolitischen Situation - dem Krieg in der Ukraine, beginnender Rezension, weltweiter Versorgungsknappheit mit Energie und Rohstoffen - nicht außer Acht lassen.

Die Arten sterben viel zu leise, deshalb müssen wir für sie laut werden!


Wir sind abhängig

Unsere Nahrung, unser Wasser, die Luft, die wir atmen, all das steht uns nur zur Verfügung, wenn die ökologischen Systeme weltweit einigermaßen im Gleichgewicht sind. Die Supermarktregale sind nur voll, wenn auf den Feldern Getreide, Obst und Gemüse wachsen. Abgesehen von der notwendigen menschlichen Arbeit muss der Boden eine gewisse Produktionsleistung erbringen, von der er sich in Abständen regenerieren können muss. Niederschläge und Temperatur spielen eine Rolle, Bestäuberinsekten müssen einen großen Teile aller Pflanzen besuchen. Das Wasser aus dem Hahn fließt nur so lange, wie die Privathaushalte und Industrie nicht mehr aus den Reservoirs entnehmen als sich regenerieren kann. Das Zusammenspiel ist komplex - und wir als Menschheit stehen nicht außerhalb des Systems, sondern sind ein Teil davon und von der Balance der Kräfte abhängig. Gerät ein Parameter oder geraten gar mehrere - Bodenfruchtbarkeit, Wasserkreisläufe, Temperatur, Biomasse an Insekten - aus dem Gleichgewicht, ist schon mittelfristig die Versorgung mit Wasser und Nahrung gefährdet.

Genau dies ist aber seit Jahren der Ernstfall. Täglich verschwinden 150 Arten unwiederbringlich vom Planeten. In Deutschland stehen 478 heimische Arten (der Säugetiere, Brutvögel, Kriechtiere, Lurche, Süßwasserfische und Neunaugen) auf der roten Liste. Wir verlieren fruchtbaren Boden - in Europa 470 Millionen Tonnent jährlich - und Wasserknappheit ist schon jetzt ein großes Problem in Teilen des Landes und wird sich aller Voraussicht nach verschärfen.

Dies scheinen die meisten Menschen höchstens sehr diffus wahrzunehmen oder auch gar nicht.



Heiße Luft

Die meisten Regierenden wissen über diese Zusammenhänge aber bestens Bescheid . Daher treffen sie sich seit 1992 regelmäßig, um über geeignete Programme zum Schutz der Artenvielfalt zu sprechen, so wie sie sich auch regelmäßig über gebotene Maßnahmen zum Klimaschutz austauschen. Auf diesen Treffen wird klar kommuniziert, wie bedrohlich die Krise des Artensterben für die Menschheit ist, und was alles notwendig sei, sie aufzuhalten.

Zuletzt einigten sich 2015 die Vertragsstaaten im japanischen Nagoya auf eine Konvention nicht nur zum Schutz von Ökosystemen (auf den Stopp der Entwaldung, auf einen allgemein nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen und auf großflächige Renaturierung), sondern auch auf zahlreiche soziale, wirtschaftliche, wissenschaftliche, erzieherische, kulturelle und ästhetische Belange, wobei auch der Gerechtigkeitsaspekt berücksicht wird: Weltweit soll der Zugang zu den Lebensgrundlagen gesichert werden, für alle Menschen gleichermaßen.

Das waren die Ziele, beschlossen für das Jahr 2030:

30 Prozent der Erde steht unter Schutz.

20 Prozent der degradierten Flächen sind renaturiert.

Der Pestizideinsatz ist um zwei Drittel gesunken. Zudem gelangt kein Plastikmüll mehr in die Meere.

Finanzielle Anreize, die die biologische Vielfalt schädigen, sind um eine halbe Billion Dollar pro Jahr abgebaut.

Und was ist passiert? Die Zerstörung von Ökosystemen schreitet weiter ungebremst voran.

Wie auch beim Klimaschutz scheinen der Schutz der biologischen Vielfalt und vitale Wirtschaftsinteressen in unvereinbarem Gegensatz zu stehen, wie anders können wir uns die Stagnation erklären? Denn folgendes wird jetzt bereits wissenschaftlich diagnostiziert:

“Trotz laufender Bemühungen verschlechtert sich die biologische Vielfalt weltweit, und dieser Rückgang wird sich bei "Business-as-usual"-Szenarien voraussichtlich noch verstärken.”

Wir müssen also hier, wie auch beim Klimaschutz, diagnostizieren, dass auf diesen Konferenzen zum großen Teil heiße Luft produziert wird: Es werden Absichtserklärungen ohne verbindliche Handlungsstrategien abgegeben, vor allem ohne jegliche Erfolgskontrollen über eventuelle Maßnahmen seitens unabhängiger Beobachter.



Der Krieg überschattet die Thematik

Warum wird darüber nicht diskutiert? Müsste nicht täglich eine Fernsehsendung kommunizieren, dass wir kurz vor einem ökologischen Kollaps stehen?

Zum einen hat es aktuell mit dem Angriffskrieg des russischen Regimes auf die Ukraine zu tun, dass eine UN- Konferenz über Biodiversität wenig Aufmerksamkeit bekommt. Deutschland nimmt hunderttausende von Geflüchteten auf. Die deutsche Außenpolitik hat Schwierigkeiten, sich zu positionieren, was die Unterstützung der Ukraine mit Waffen betrifft. Und dann ist da die Frage nach der Energiesicherheit, wenn die russischen Gasimporte tatsächlich gestoppt würden. Die Verbraucherpreise steigen, es droht eine Rezension. Corona ist auch noch längst nicht überstanden.

Die multiplen Krisen können schon ganz gut ablenken von dem desaströsen Hintergrundrauschen namens Artensterben.

Die Horrorvision eines Atomkrieges in Europa lässt das Verschwinden der Bienen als verhältnismäßig harmlos erscheinen.

Das ist es aber eben leider nicht.

Dass noch immer so viele Menschen glauben, dass es Wichtigeres gäbe, als sich damit zu befassen, dass wir mit unserem Lebensstil und Wirtschaftssystem die planetaren Grenzen überschreiten und somit unsere Lebensgrundlagen vermutlichl irreversibel zerstören und dass wir dringend etwas ändern müssten, liegt aber nicht nur am Krieg.

Mächtige Lobbygruppen arbeiten seit Jahren daran, das existierende System von Ausbeutung und Gewinnmaximierung propagandistisch als alternativlos zu verkaufen. Diese Gruppen prägen auch die öffentliche Meinung, dass die ökologische Krise zum einen nicht so dramatisch sei und zum anderen technische Neuerungen alle Probleme zukünftig sowieso lösen werden. Und sie nehmen massiv Einfluss auf die Regierenden, so dass immer wieder wirkungsvollere Gesetze und Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität und des Klimas verhindert werden. Das Ergebnis ist, dass kurzfristige Wirtschaftsinteressen immer noch Vorrang haben vor dem Schutz der Lebensgrundlagen und Profitmaximierung mehr wert ist als Menschenrechte - die in Ländern des globalen Südens massiv verletzt werden -, und mehr wert als sauberes Wasser und gesunder Boden.

Bestes aktuelles Beispiel: Die Giga-Factory von Elon Musk in Brandenburg, errichtet inmitten eines Trinkwasserschutzgebietes. Vor ein paar Tagen gab es den ersten “Unfall”: Am 11. April sind laut Landesumweltbehörde Brandenburg 15.000 Liter Chemikalien aus der Lackiererei des Werks ausgelaufen. 20 Tage nach Eröffnung des Werks. Industrieansiedlung um jeden Preis - buchstäblich. Auch um den Preis der möglichen Gefährdung der Grundwasserversorgung der Bevölkerung?.

Das darf nicht einfach hingenommen werden!


Die Krise sichtbar machen

Gemeinsam mit anderen Klimagerechtigkeitsbewegungen werden wir diesen Monat mit vielfältigen Aktionen die Verantwortlichen adressieren, die den effektiven Schutz der Biodiversität für kurzfristige Profitinteressen bisher blockiert haben und aus der Ausbeutung und Zerstörung von Ökosystemen nach wie vor Milliardengewinne erzielen.

Wir wollen bewirken, dass diese Krise endlich als solche wahrgenommen wird: lebensbedrohlich für die gesamte menschliche Zivilisation. Aber auch, dass es Lösungen gibt, sinnvolle Schritte, die jetzt unternommen werden müssen!

Gehen wir gemeinsam auf die Straße - für uns und alle anderen Arten!


Folgende Aktionen werden u. a. stattfinden:

4. Mai, Berlin:

Unter dem Motto: "Wir haben genug, um glücklich zu sein" meditieren Angehörige aus Berliner Sanghas und Aktivist:innen von Extinction Rebellion öffentlich am “Country Overshoot Day” für Deutschland, sitzend, inmitten der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße, für einen friedvollen Umgang mit unserer Erde und laden Passant:innen zum Innehalten ein. Initiatoren sind die Earth Holder Berlin, eine Gruppe engagierter Buddhist:innen.

“Damit auch noch die Generation unserer Kinder und Enkel:innen eine lebenswerte Zukunft hat, brauchen wir jetzt eine regenerative Kultur, durch die wir der Erde mehr zurückgeben als wir nehmen.”, sagt eine Teilnehmerin.

"Ich bin fassungslos und verzweifelt angesichts dessen, dass die Menschheit wissentlich in eine selbstgemachte Katastrophe steuert. Es mangelt uns nicht an Erkenntnis über die Situation, in der wir uns befinden. Es mangelt uns nicht an Möglichkeiten, effektive Veränderungen zu erwirken. Es mangelt uns an Bereitschaft, im Einklang mit unserem Wissen zu handeln und Gemeinwohlinteressen zukünftiger Generationen über kurzfristige private Profitinteressen Einzelner zu stellen. Dieser Kurs wird die heutigen Profiteure genauso ins Verderben reißen, wie unzählige unbeteiligte Menschen und Tiere. Diesen Kurs will ich nicht länger mittragen!" (Christian Bergmann, 50 Jahre, lebt in Brandenburg).

7.5., NRW:

Friedliche ungehorsame Aktion in einer belebten Einkaufsgegend unter dem Motto “Gutes Leben gibt's nicht ohne Artenvielfalt”. Hier werden die Rebelli das Alltagsleben der Menschen bewusst unterbrechen und mit kreativen Aktionen, Performance und Bannern auf den Zusammenhang zwischen unserem Leben und dem aller anderen Arten hinweisen.

Bewusst gewählt ist das Datum, da es zwischen dem Country Overshoot Day und den Landtagswahlen in NRW liegt und die Wähler:innen auf die Brisanz des Themas auch bezüglich ihrer Wahlentscheidung hingewiesen werden sollen.


22./23.5., Berlin:

Anlässlich des Welt-Biodiversitätstages adressieren Rebell:innen von Extinction Rebellion, Animal Rebellion und Parents for Future bewusst die Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik, den überfälligen Strukturwandel im Energie-, Landwirtschafts- und Verkehrssektor entschlossen anzugehen. Der Schutz der Artenvielfalt muss Priorität vor Konzerninteressen haben. Es wird sowohl angemeldete als auch Aktionen des zivilen Ungehorsams geben, um mit starker Bildsprache Aufmerksamkeit auf den drohenden ökologischen Kollaps zu lenken.


Quellen:

https://www.unep.org/events/conference/un-biodiversity-conference-cop-15

https://www.cbd.int/sp/targets/

https://www.riffreporter.de/de/umwelt/deutscher-umweltpreis-boehning-gaese-joosten-klima-naturschutz-dbu-interview

https://www.lobbycontrol.de/2022/02/wirtschaftsnahe-vorfeldorganisationen-direkter-lobby-zugang-zu-parteien/

https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/artenschutz/info.html

https://www.scinexx.de/news/geowissen/europa-verliert-seinen-fruchtbaren-boden/

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