Klimaschutz und Biodiversitätsschutz funktionieren nur zusammen.
Zur COP 15 in Canada.
Es findet ein unauffälliges Metzeln, ein leises Morden statt. Dass es ein leicht verzögerter Selbstmord ist, wird erfolgreich verdrängt.
1962 erschien das ikonische Buch „Der stumme Frühling“ von Rachel Carson, und als ginge es um Krieg oder militärische Gräueltaten, ist in diesem Buch viel die Rede von „Angriff“, „Sperrfeuer“, „Bekämpfung aus der Luft“, „Ausrottung“, „totalem chemischem Krieg“, „Vergiftung“, „Massensterben“. Angriffsziele sind „Schädlinge“, „Unkraut“ — und, was man damals noch nicht so klar gesehen hat, die Umwelt, Ökosysteme in ihrer Gänze. Rachel Carsons Bestseller war ein Weckruf und markiert den Anfang der Umweltbewegung. Während des Zweiten Weltkriegs und kurz davor hatte die chemische Industrie vor allem in Deutschland und den USA ganz neue Klassen toxischer Stoffe erfunden, die dann nach dem Krieg in unfassbar blauäugiger Weise zur Schädlingsbekämpfung in der Land- und Forstwirtschaft eingesetzt wurden.
Carson demonstrierte mit „Der stumme Frühling“ die verheerenden Risiken und Wirkungen und die wirtschaftlichen Interessenverflechtungen, unterstützt von sträflicher Gedankenlosigkeit und Inkompetenz der Behörden, die bis heute eine Rolle spielen. 60 Jahre später sind die Folgen der da beschriebenen vorherrschenden Kultur der Ausbeutung einiger weniger auf Kosten aller anderen weit fortgeschritten, das Artensterben hat schon in großen Teilen stattgefunden, es ist schon passiert. In diesen 60 Jahren sind 70 % der wilden Säugetiere verschwunden, ähnlich ist es den Insekten ergangen, die Anzahl der Vögel ist seit 1800 um 80% gesunken, bei vielen anderen Tierarten und den Wirbellosen ist der Schaden kaum zu bemessen.
Wir gewöhnen uns so erstaunlich schnell an das Verschwinden, das ist tückisch.
Warum macht es traurig, wenn zum Beispiel im Namen der Verkehrsicherheit oder Bauvorhaben ein gänzlich gesunder Bäum gefällt wird? Weil wir in diesem Moment intuitiv spüren, es ist auch ein Teil von uns, der hier angegriffen und zersägt wird. Unsere unbedingte Verbundenheit mit der Natur wird uns nur selten bewusst, sie ist meist versteckt. Unsere unbedingte Abhängigkeit bleibt uns meist ebenso verborgen; das Biom in uns besteht aus Millionen verschiedener Organismen. Wir essen das, was die Natur hergibt jeden Tag, trinken Wasser, atmen bis zum letzten Atemzug die mittlerweile zu sehr CO2 gesättigte Luft, und doch glauben wir als Menschen etwas Besonderes zu sein, etwas, das über den Dingen steht und in jedem Fall über dieser lächerlich wehrlosen Natur.
Haben wir das schon begriffen? Anscheinend nicht
Wir sind dem Wald nicht dankbar, dass er die Feuchtigkeit in unserer Region reguliert, wir sind den Bienen und weiteren Fluginsekten nicht in Demut verpflichtet, weil sie so viele Menschen ernähren, wir lernen nicht, einen lebendigen Boden voller Regenwürmer und Mikroorganismen wertzuschätzen und zu pflegen. Wir sind entfremdet. Wir fühlen und sehen nicht, wie die Umgebung um uns herum schon kaum noch Laute von sich gibt. Nichts wuselt mehr im Herbstlaub, kaum mehr Vogelschwärme fliegen über uns, und wenn ja, sind sie lächerlich klein geschrumpft, sodass sie kaum mehr den Namen Schwarm verdienen.
Wie kann ich glücklich sein in einer Welt, wo ständig und systematisch Unglück geschieht, wo das Wehrlose, die Natur, die Tiere, die Flüsse, Wälder und Menschen angegriffen, entstellt, geschändet werden?
Ich wach morgens auf, und ich denke, ich lebe in einer Realsatire.
Unser Verhalten ist grotesk.
Unsere Regierenden behaupten, so viel zu schützen. Sie tun es nicht! Ein Naturschutzgebiet in Deutschland: das klingt gut, das klingt nach: kein Glyphosat, Ruhe und Raum für Wildnis. Fakt ist: die meisten Naturschutzgebiete sind keine 50 ha groß, und verinselt, sodass sie als Ökosystem zu klein sind, um robust zu sein, und die Landwirtschaft nagt an ihnen, jedes Jahr ein bisschen mehr. Seit zwei bis drei Jahren ist es sogar so, dass Landwirte dürrebedingte Ernteausfälle ausgleichen sollen, indem sie in Naturschutzgebieten Wiesen mähen oder Anbauflächen dazu nehmen; die Seen und Gewässer, die sich darin befinden, sind oft übersättigt mit Phosphat-Einträgen - Gülle und Glyphosat machen nicht Halt vor den Grenzen eines Naturschutzgebietes.
Wieder findet eine Konferenz statt, und wieder hoffe ich ein wenig, dass diesmal etwas Wirksames, Bindendes beschlossen wird.
Ich hoffe, Staatrepräsentant:innen werden die Schwere der Lage anerkennen und Prioritäten setzen, sie werden Lobbyisten absagen, sich nicht mehr mit ihnen treffen, ihnen sagen: „Sorry, hat Spaß gemacht, diese persönliche Bereicherung, dieses Gefühl der Bestätigung durch Macht, aber jetzt ist es echt nicht mehr lustig, die Lage ist zu ernst, wir stehen ja als globale Zivilisation am Abgrund, da muss ich echt mal meine Werte mit meinen Taten in Übereinstimmung bringen“. Und dann werden sie Erklärungen abgeben: „Ab 2023 werden wir 1/3 aller Land- und Wasserflächen auf dem Planeten unter Schutz stellen, dies in klugem, respektvollem und gemeinsamem Management mit Indigenen gestalten, die in diesen Gebieten leben. Aber wir werden auch Enteignungen im großen Stil vornehmen, um Agrarflächen stillzulegen und zu renaturieren, wir werden den Flüssen das Recht auf eigene Unversehrtheit geben, wir werden Schürfungen von Rohstoffen, die Ökozid bewirken, verbieten, wir werden zerstörerische landwirtschaftliche Praktiken stoppen, und wir werden die Einhaltung dieser Maßnahmen mit angemessenem Aufgebot kontrollieren und Überschreitungen wirksam sanktionieren!“. Das wünsche ich mir, das wäre angemessen, und das wird nicht kommen.
Es ist naiv zu glauben, dass solch eine Konferenz eingebettet in den Zwängen des Profits und der Logik des ewigen Wirtschaftswachstums etwas bewirken kann, was angemessen ist. Ich sage nicht: es macht gar keinen Sinn sich zu treffen und auszutauschen und Ziele zu formulieren. Ich sage nur: in dem genannten Kontext wird dabei nichts Konkretes, wirklich Wirksames rumkommen. Hoffnung auf Hilfe wäre an dieser Stelle falsch investiert.
Wenn wir so weitermachen, wird es so einsam auf der Welt, das werden wir nur sehr kurz überleben. Uns als Menschen bleiben nur noch wenige Jahre, um die Klimakrise einzudämmen. Das gilt genauso beim Verlust von Biodiversität. Gebt mir einen Igel, eine Eintagsfliege, einen Kiebitz!
Was wir jetzt brauchen, ist ein lauter Frühling (und einen lauten Sommer, Herbst und Winter)
Nicht nur die Klimakrise, sondern noch mehr die Biodiversitätskrise ist ein rechtfertigender Notstand für Straftaten. (Immerhin hat das Gericht in Flensburg es vor kurzem auch genau so gesehen.) Und übrigens hat Steffi Lemke (Umweltministerin der Ampel) das Urteil des Verfassungsgerichts auch als bindend für die Biodiversität erklärt.
Disruptiv sein, gewaltfreie Straftaten begehen, provozieren, klagen, sabotieren, den Diskurs und die Debatten anschieben, ist das, was übrig bleibt, das, worin noch Hoffnung besteht. Disruptives Verhalten in allen seinen Varianten ist der Schlüssel, der noch bleibt.
Wenn es in großen Kollektiven noch oder gerade nicht möglich ist, sind Aktionen einzelner oder kleinerer Gruppen hilfreich.
Solche Verhaltensweisen fallen vielen von uns schwer, ich kann das von mir sagen: dass jede/r von uns einen Schritt aus dem eigenen Business as usual und der Komfortzone wagt und sich seine passende Variante von zivilem Ungehorsam aussucht, sich ihr zuwendet, sie umsetzt. Es braucht Gespräche darüber in jeder Küche, an jeder Kasse, schreibt es an die Wände der Häuser dieses Landes, schreibt es auf den Pflaster der Straßen, schreit es in der Bahn und in eurer Kantine, sprengt das nächste Teammeeting dieser Woche, rennt als nackter Flitzer beim nächsten Konferenzbesuch über die Bühne, streikt, bitte streikt: es geht so nicht weiter. Die Wende ist möglich, es fehlt nicht an Know-how. Es fehlt lediglich an politischer Umsetzung. Man kann Umweltschützer:innen nicht mögen. Man kann auch Postboten nicht mögen, aber man möchte die Post doch erhalten. Ökologie ist keine Wahl mehr. Sie ist ein Imperativ, der unser Leben viel schneller und viel tiefgreifender verändern wird, als manche glauben. Nicht, weil plötzlich alle unsere Mitbürger:innen grün geworden wären, sondern weil es keine andere Wahl gibt als die, dass viele Menschen oder sogar unsere gesamte Spezies aussterben könnten.
Ich brauch für die Zukunft meiner Kinder Verbote und eine starke Postwachstums-Politik!
Die Logik unserer momentanen profitgetriebenen Weltordnung zu brechen, ist die einzige Überlebenschance, die wir haben.
Und genau das wünsche ich mir für 2023: Einen raschen Deindustrialisierungsprozess! Und die großflächige Rückgabe der Natur an sich selbst. Schutz von großen Gebieten, und einen völlig anderen Umgang mit Wäldern, mit Gewässern, eine radikal veränderte Landwirtschaft, kleinteilig, bunt gemischt, mit viel Platz für nicht-wirtschaftliche Entfaltung.
Es geht so nicht weiter.
Etwas disruptives muss passieren, um die Demokratie und die Zukunft zu retten. Und wir können daran mitwirken.
Hope dies, action begins.