Ausnahmezustand
Nichts ist mehr, wie es vor zwei Monaten war. Das Coronavirus dominiert die Nachrichten und Diskurse auf der ganzen Welt. Beinahe alle Menschen sind von der globalen Pandemie betroffen, die bis zum jetzigen Zeitpunkt (Stand: 03.04.) bereits mehr als 53.000 Todesopfer forderte, Tendenz steigend. Menschen überall auf der Welt sind von der Pandemie unterschiedlich betroffen. Alte und Junge sind mit Atemproblemen im Krankenhaus, viele können nicht mehr zur Arbeit, bangen um ihre Existenz, sind einsam, einige haben kein Zuhause, andere haben es sich zu Hause bequem gemacht. Wieder andere sorgen sich um ihre Beschäftigten; manche ärgern sich darüber, dass ein Virus sie davon abhält, noch reicher zu werden, als sie schon sind. Alle sind betroffen.
Regierungen überall auf der Welt stemmen sich gegen die Ausbreitung der Pandemie. Viele beschließen weitreichende Einschränkungen des öffentlichen Lebens und individueller Freiheiten im Akkord. Und sie beschließen milliardenschwere Hilfspakete für Arbeitnehmer:innen und Unternehmen. Alte Logiken, wie die Schwarze Null, der freie Markt und Wettbewerb und wirtschaftliche Freiheiten, werden während dieser Krise ausgesetzt. Die Bundesregierung und die EU sind plötzlich bereit, den Empfehlungen der Expert:innen des Robert-Koch-Instituts und anderer Virolog:innen zu folgen, um Menschenleben und das Gesundheitssystem zu retten, und weichen von konventionellen Regeln und Normen ab. Die Stimmen derer, die um der Wirtschaft willen die Vorsichtsmaßnahmen schnell wieder beseitigen und den alten Zustand wieder herstellen wollen, wirken plötzlich völlig fehl am Platz. Bis vor der Pandemie bestimmten sie noch den Diskurs darüber, wie die Gesellschaft zu organisieren ist.
Alte Logiken werden temporär außer Kraft gesetzt
Das oberste Ziel der Bundesregierung scheint nun die Milderung der Kosten und Schäden der Pandemie zu sein. Menschen sollen sicher mit dem Nötigsten versorgt werden. Sie sollen nicht krank werden, und sie sollen keine außerordentlichen finanziellen Schwierigkeiten haben. Ein kurzfristiges Denken, das das Wirtschaftsleben ohne Einschränkungen und Vorsichts-maßnahmen weiterlaufen lassen würde, wäre mittelfristig verheerend.
Doch der alte Status Quo ist damit nicht überwunden. Diejenigen, die schon vor dem Ausbruch der Pandemie am wenigsten an der Wirtschaft teil hatten, bekommen am wenigsten Hilfe. Milliarden an Schulden und Staatshilfen auch für Unternehmen, die der Allgemeinheit auch vor der Krise massiven sozialen und ökologischen Schaden angerichtet haben, sollen dafür sorgen, dass nach dem Ende der Pandemie und der Beschränkungen alles so weitergeht wie vorher. Dies würde die Erreichung der Klimaziele des Pariser Abkommens unmöglich machen und das sechste Massenaussterben der Arten massiv beschleunigen.
Die Corona-Pandemie ist fraglos ein Einschnitt in der Wirtschaftsgeschichte, dessen Folgen noch offen sind. Der gesamte Fokus der Politik und der Öffentlichkeit liegt momentan auf der akuten Bewältigung der Corona-Krise, doch wenn sie vorbei ist, wird hoffentlich nichts einfach zum Alten zurückkehren.
Nach der Krise ist in der Krise
Wenn wir uns jetzt die “Normalität” von vor einem Monat zurückwünschen, was wünschen wir uns da eigentlich? Das Abbrennen von Wäldern im Kongobecken, Brasilien und Australien? Situationen, die tausende Landwirt:innen aus Mittelamerika zwangen, in Richtung der USA zu flüchten? Klimatische Bedingungen, die Indien und Pakistan, zwei Nuklearmächte, in einen Konflikt um Wasser an der Grenze verwickeln? Ist das normal? Schon vor der Pandemie war die Norma-lität ein Krisenzustand.
Die Klima- und ökologische Krise spitzt sich trotz der vorübergehenden Minderung der wirtschaftlichen Aktivitäten weiter zu. Eine Fortsetzung des globalen “Business as usual” auch nach dem Ende der Pandemie führt bereits jetzt - doch zunehmend stärker in Zukunft - zu verheerenden sozialen Katastrophen, ausgelöst durch bspw. Dürren, Hitzewellen, intensivere und größere Waldbrände, die Ausbreitung von Infektionskrankheiten, Hochwasser, Nahrungsmittelknappheiten. Die massiven Änderungen des gesellschaftlichen Lebens durch die aktuelle Pandemie zeigen exemplarisch, wie einschneidend die sozialen Folgen von unkontrollierbaren Klima- sowie ökologischen Kipppunkten werden können. Historisch sowie strukturell bedingte soziale Ungleichheiten setzen sich bis heute fort und werden durch die Klima- und ökologische Krise - wie in einem Teufelskreis - noch weiter verstärkt.
Das Ausmaß der Krisen betrifft selbstverständlich auch Deutschland - ökologisch sowie soziopolitisch. Seien es die Zerstörung von Ökosystemen, die Klimawandel-bedingte Verknappung von Ressourcen, der ansteigende Meeresspiegel oder die anhaltenden Hitzewellen - unsere Politik wird langfristig nicht in der Lage sein, die Folgeschäden der Klimakrise zu kompensieren, wenn sie heute außer Kontrolle geraten. Schließlich wird auch die politische Landschaft von all den ökologischen Destabilisierungen beschädigt werden. Krise und Debatte, Ausnahmezustand und Grundrechte vertragen sich nicht gut miteinander. Wem die Demokratie am Herzen liegt, muss jetzt handeln.
Was nötig ist, ist möglich
Es ist bekannt, was nötig ist, um uns und unsere Demokratie vor den Folgen der Klima- und ökologischen Krise zu schützen und sie einzudämmen, genau wie bekannt ist, was nötig ist, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Es besteht ein riesiger Korpus an wissenschaftlicher Erkenntnis, auf dem wir aufbauen können, wenn wir unsere Entscheidungen auf Grundlage der Realität und der Einschätzung von Expert:innen treffen.
Die Rhetorik der Kanzlerin, der Minister und Ministerpräsident:innen in der Corona-Krise ähnelt einer, die für die Klima- und ökologische Krise angemessen wäre, aber bisher noch fehlt. Nach anfänglich verzögerten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurden die Gefahren nun seitens der Bundesregierung erkannt - sie erkennt die Notlage nun an und postuliert, dass wir das tun müssten, "was nötig ist". Andere Bedenken müssten nun hinten anstehen, wenn es um das Allgemeinwohl und die Gesundheit der Menschen geht. Sie erklärt den Menschen, warum weitreichende Maßnahmen notwendig sind und macht ihnen Mut, dass wir das Problem mit Solidarität meistern werden.
Die Corona-Krise bestätigt den Ansatz von Extinction Rebellion, dass wir fordern müssen, was nötig ist, um die Krise zu bewältigen, und nicht etwa das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt “machbar” oder “möglich” erscheint. In der Corona-Krise sind innerhalb weniger Wochen Maßnahmen “machbar”, die vorher vollkommen ausgeschlossen erschienen. Die Bundesregierung stockt die Garantien für die KfW, die jetzt unbegrenzt Kredite vergeben darf, auf über €500 Milliarden auf und verabschiedet in Windeseile einen Nachtragshaushalt von über €150 Milliarden. Erinnern wir uns an all die Stimmen, die uns einreden wollten, die Energiewende sei aufgrund ihrer Kosten von €550 Milliarden bis zum Jahr 2050 nicht umsetzbar. Doch plötzlich, im Angesicht einer Krise, verschuldet sich Deutschland enorm und auch die EU und die EZB verkünden milliardenschwere Maßnahmen.
Die Ausrede, man könne nichts oder nicht so viel, wie nötig wäre, gegen die Klima- und ökologische Krise tun, ist demnach nicht zutreffend. Unter den richtigen Umständen ist es ohne Frage möglich, so zu handeln, wie es den Krisen angemessen ist. Dafür müssen unsere Entscheidungsträger:innen jedoch die Forderungen der Wissenschaftler:innen ernst nehmen und die Dringlichkeit der Klima- und ökologischen Krise an die Öffentlichkeit kommunizieren.
Die Corona-Krise hat vielen Menschen in Deutschland gezeigt, dass auch in einem reichen Land wie Deutschland ein Katastrophenfall möglich ist, wenn die Politik zu spät handelt. Diese Erfahrung könnte mehr Menschen dafür sensibilisieren, dass auch beim Schutz vor Katastrophen und Schäden durch die Klima- und ökologische Krise ein schnelles Handeln nötig ist, um sie zu verhindern bzw. auszubremsen.
Die Klima- und ökologische Krise ist einfacher zu bekämpfen als Corona
Gerade im Kontrast zur Bekämpfung der Corona-Pandemie birgt die Bekämpfung der Klima- und ökologischen Krise in sich Chancen und ist weniger sozial disruptiv. Die Wirtschaft so zu transformieren, dass wir keine Treibhausgase mehr ausstoßen und das Massenaussterben stoppen, kann zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen führen als dadurch verloren gehen. Niemand muss zu Hause bleiben, und die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit - die Grundpfeiler der Demokratie - sind gewährleistet.
Wir können die Transformation gestalten und gleichzeitig unsere Demokratie stärken. In der Corona-Krise wurden drastische Maßnahmen und die Einschränkung von Grundrechten schnell von oben herab verabschiedet. Auch wenn bei der Klima- und ökologischen Krise die Zeit drängt, haben wir noch genug Zeit, um durch Bürger:innenversammlungen die Partizipation zu erhöhen und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Die Lösung für diese Krisen liegt im Empowerment der Bürger:innen, im Dialog und im kollektiven Ausprobieren neuer Wege.