Vornehm geht die Welt zugrunde

Geschrieben von Wolf Slater am 28.10.2022

© Just Stop Oil
© Just Stop Oil

An den pikierten Kunstfreund und die brüskierte Liebhaberin der Schönen Künste, deren Gerechtigkeitsempfinden jüngst so hat leiden müssen.

Was war passiert?

Aktivist:innen von „Just Stop Oil“ hatten in der National Gallery in London Tomatensuppe über das Gemälde „Sonnenblumen“ von Vincent Van Gogh geschüttet. Anschließend entledigten sie sich ihrer Jacken, um den Blick auf ihre „Just Stop Oil“-T-Shirts freizugeben und klebten sich an die Wand der Galerie.

Die Museumsleitung hat inzwischen bestätigt, dass das Gemälde, das von Glas geschützt war, nicht beschädigt wurde. Der Rahmen des Bildes habe ein wenig gelitten.

Kein Schaden, und doch, nun war er endlich da, der Aufstand des Bildungsbürgertums! Wie von der unsichtbaren Hand des Marktes geleitet habt Ihr kollektiv Eurer Verärgerung Ausdruck gegeben in den Sozialen Medien ob dieses Angriffs auf den guten Geschmack.

„Je mehr man liebt, um so tätiger wird man sein.“ - Vincent Van Gogh

Kindisch nanntet Ihr die Aktion! Nun, es waren ja auch fast noch Kinder, die sich da wohl nicht anders zu helfen wussten, um auf ihre Verzweiflung aufmerksam zu machen. Der Duden definiert „kindisch“ als unreif, unangemessen, töricht.

War die Aktion etwa so töricht:

  • wie das Erbgut von Pflanzen zu manipulieren, damit nur sie die Insektizide überleben, die jedes sonstige Leben zerstören,
  • und für diese Pflanzen in gigantischem Ausmaß Regenwald zu vernichten, von dessen regulierender Funktion das Leben auf diesem Planeten abhängt,
  • nur um die Früchte dann an Tiere zu verfüttern, die unter Qualen gehalten werden,
  • damit wir sie zu Fleisch verarbeiten, dessen (übermäßiger) Konsum unsere Gesundheit ruiniert?

Ungefähr so töricht? Euren Aufschrei muss ich da überhört haben.

„Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?“ - Vincent Van Gogh

Der Anschlag auf das Gemälde sei Vandalismus, schriebt Ihr. Der Duden definiert „Vandalismus“ als blinde Zerstörungswut. Dann müssen die Aktivist:innen schöne Versager sein, denn sie haben ja gar nichts zerstört. Im Gegenteil zu unserem Lebensstil, der ein richtiger Kerl ist. Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten sind derzeit vom Aussterben bedroht, schätzt der Weltbiodiversitätsrat IPBES. Forscher halten diese Zahl für zu konservativ. Sie sehen uns am Beginn des sechsten Massenaussterbens. Zerstört werden landwirtschaftliche Flächen, zerstört werden nährstoffreiche fruchtbare Böden. Zerstört wird die Lebenswelt der Meere. Jeder Tag, den wir diesen Lebensstil aufrechterhalten, zerstört einen Teil des Planeten. Die Aktivist:innen sehen das, sind so blind also nicht. Was sie allerdings haben, ist Wut. Das immerhin könnt Ihr ihnen zurecht vorwerfen.

„Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen - doch es wachsen keine Blumen auf ihr.“ - Vincent Van Gogh

Einen Akt der Barbarei habt Ihr die Soßenattacke genannt. Als Rohheit, Unmenschlichkeit und Grausamkeit definiert der Duden „Barbarei“. Ihr meintet damit also etwas, das vergleichbar ist mit beispielsweise der Flutkatastrophe in Pakistan, die 1719 Menschen das Leben kostete, fünfeinhalb Millionen Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser raubte, die Umwelt und Lebensgrundlage einer ganzen Gesellschaft zerstört hat, eine Katastrophe, die in unmittelbarem Zusammenhang steht mit der Klimakrise, zu der Pakistan wiederum fast nichts beigetragen hat. Wie feinsinnig Ihr seid! Schließlich hat Van Gogh ja auch nichts zur Tomatensoße beigetragen. Oder könnte es sein, die Flutkatastrophe von Pakistan interessierte Euch nur, würde sie – von Picasso gemalt – im Prado hängen?

"Es ist nicht die Sprache der Maler, sondern die Sprache der Natur, auf die man hören sollte, das Gefühl für die Dinge selbst, denn die Wirklichkeit ist wichtiger als das Gefühl für Bilder." - Vincent Van Gogh

Aber da tue ich Euch unrecht, denn habt Ihr nicht oft genug betont, Eure wahre Sorge sei, dass diese jungen Aktivist:innen mit ihrem Protest der guten Sache mehr schaden denn nutzen? Das ist so fürsorglich von Euch. Natürlich seid Ihr ebenso dafür, der Klimakrise Gehör zu verschaffen, solange sie als verdaubare Größe zwischen Börsennachrichten, Wettervorhersage und Bundesligaergebnissen Platz hat. Es ist der Widerstand gegen die Zerstörung des Planeten, der Eure Behaglichkeit stört, nicht die Zerstörung des Planeten selbst. Noch.

© Markus Mauthe
© Markus Mauthe

Dein Aufschrei, lieber Kunstfreund, Dein Entsetzen, verehrte Liebhaberin der Schönen Künste, offenbaren, dass Ihr immer noch nicht verstanden habt, wo wir stehen und worum es geht. Das wirklich Erschreckende an dieser Aktion ist Eure Arroganz. Vornehm geht die Welt zugrunde. Ihr seid der Beweis.


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