Gegenüber ziehen neue Nachbarn ein. Nachdem ich monatelang nur Renovierungslärm hörte, bekomme ich sie nun endlich zu Gesicht und freue mich, dass es sich um eine junge Familie handelt. Wir haben ein erstes nettes Gespräch. Freundliche Menschen.
Ihre erste Maßnahme nach dem Einzug ist es, die Beete vor dem Haus zu entfernen. Sie weichen Betonplatten. Als nächstes kommen die Bagger. Der gesamte Baumbestand im Garten wird entfernt, ebenso alle Büsche und Sträucher. Stattdessen wird Rollrasen verlegt und ein einsames Fußballtor aufgestellt. Fürs Kind. Sicher hat es ein Bilderbuch, wo Bienen und Vögel drin sind. Kein Einzelfall hier.
Die Siedlung verändert sich. Wo früher Hecken und Sträucher die Gärten begrenzten, dienen nun massive Steinblöcke als Sichtschutz. Fast schon komisch ist es, wenn Autofahrer kaum mehr in ihr Fahrzeug kommen, weil neben ihnen ebenfalls ein SUV geparkt hat. Konsequent fordert der ADAC eine Anpassung der städtischen Infrastruktur an die neuen Autos, die nun mal etwas größer seien als die älteren. Seit 2014 ist der Anteil der SUVs bei den Neuzulassungen von 9,8 % 2014 auf 18,3 % 2018 gestiegen. In der ersten Jahreshälfte 2019 haben sich 375.982 Menschen so einen Straßenpanzer zugelegt. Und die Branche rechnet damit, dass der Anteil an den Neuzulassungen bis 2023 auf 38,5 % steigen wird. „Im Schnitt stoßen heutige SUVs auf einem Kilometer 132,5 Gramm CO2 aus, Geländewagen sogar 162,8 Gramm. Mittelklasselimousinen kommen dagegen auf 125,6 Gramm, Autos der Kompaktklasse stoßen im Schnitt sogar nur 116,7 Gramm pro Kilometer aus.“, schreibt Zeit-online. Insbesondere der SUV-Boom sei verantwortlich dafür, dass die CO2-Emissionen in Deutschland immer langsamer sinken.
Die Zahl deutscher Kreuzfahrtpassagiere hat sich in den letzten zwanzig Jahren verzehnfacht. Über zwei Millionen Deutsche verbringen ihren Urlaub so. Weltweit sind es 22 Millionen. Ein Kreuzfahrtschiff stößt am Tag soviel CO2 aus wie 84.000 Autos, soviel Stickstoff wie 421.000 Autos, soviel Feinstaub wie über eine Million Autos und soviel Schwefeldioxid wie 376 Millionen Autos (Quelle: NABU). Kreuzfahrtschiffe verbrauchen im Schnitt am Tag 150 Tonnen Schweröl und die Energie einer Kleinstadt.
Es gäbe bei den Deutschen „keinen Greta-Effekt“, schreibt tagesschau.de. Lufthansa-Chef Carsten Spohr erwartet für 2019 einen Passagierzuwachs von rund 4 %. Ähnlich sieht es Easyjet-Chef Stephan Erler. Der Euro-Airport Basel verzeichnet ein Plus der Buchungen von 9,5 % im Vergleich zum Vorjahr.
In der Hyperinflation 1923 haben die Menschen, was sie verdient haben, sofort verjubelt. Lieber das Gehalt am Lohntag auf einer Party mit Schampus versaufen, als drei Wochen später dafür nur noch eine Schachtel Streichhölzer zu bekommen. In der Not zu prassen klingt wie ein Widerspruch, hat aber durchaus Sinn gemacht.
Welchen Sinn macht das geradezu selbstmörderische Verhalten der Menschen heute? Vielleicht braucht es erst den historischen Abstand, um das verstehen zu können, wenn es denn dann noch eine Zukunft gibt, in der ein Geschichtswissenschaftler sich darüber Gedanken machen kann.
„Wir leben in einem toxischen System, doch daran trägt kein Mensch allein die Schuld“, ist das achte Prinzip von Extinction Rebellion. Das stimmt. Aber ist es nicht trotzdem verwunderlich, dass da, wo eine Wahl besteht, dann die schädlichste aller Möglichkeiten gewählt wird?
Einer, der sich damit brüstet und die Ignoranz zur Tugend erklärt, ist Ralf Höcker, Pressesprecher der WerteUnion, jenes erzkonservativen Vereins, dem auch Ex-Verfassungsschutzpräsident Maaßen und Junge-Freiheit-Redakteur Hinrich Rohbohm angehören. Höcker gibt damit an, im Jahr 30mal geflogen zu sein, einen SUV als Zweitwagen zu fahren, Urlaub auf dem Kreuzfahrtschiff zu machen, beschimpft Umweltschützer als „Bio-Blockwarte und Öko-Nazis“ und fordert seine Leser*innen auf, es krachen zu lassen. Und ein Blick in die Statistiken zeigt: Das tun sie. Ich kann nur empfehlen, seine Selbstentblödung zu lesen, dann weiß man, dass seine Partei bei Rezo noch viel zu glimpflich davongekommen ist.
So sehen also die Profis aus, denen die junge Generation den Klimaschutz überlassen soll. Doch auf diesen schlechten Deal lässt sie sich nicht ein. Was haben die grauen Herren (und auch die grauen Damen) nicht alles versucht, um diese lästigen Störenfriede freitags endlich wieder zurück auf die Schulbank zu kriegen! Ignorieren. Hat nicht geklappt. Nicht ernst nehmen. Auch nicht. Väterlich (oder mütterlich) auf die Schulter klopfen. Sie sind immer noch da. Eine der beliebtesten Angriffsformen, in Leserbriefspalten ebenso wie in sozialen Medien, bei grauen Damen und Herren mit und ohne Macht, ist es, auf irgendeinen Fehler zu lauern, um die jungen Menschen der Heuchelei überführen zu können. Wehe, da trägt eine Demonstrantin ein T-Shirt von H&M! Wehe, da lässt sich ein Aktivist auf einem Flug erwischen! Und endlich hat Greta Thunberg einen Fehler gemacht: Jetzt können wir über „sechs klimaschädliche Flugreisen“ (taz) reden statt über die allein neun Millionen Flugmeilen deutscher Parlamentarier 2018. Von Thunbergs Inhalten mal ganz zu schweigen.
Von allen Forderungen an FridaysforFuture ist die der ökologischen Makellosigkeit die mit Abstand dümmste. Eine Woche lang war ich darauf angewiesen, im ALDI einzukaufen, weil das schlicht die einzige Einkaufsmöglichkeit war. Da hatte ich die Wahl zwischen konventionellem unverpacktem Gemüse oder einzeln in Plastik eingeschweißtem Biogemüse. Kann mir irgendjemand sagen, welche Entscheidung da die richtige gewesen wäre?
„Wir stellen uns selbst und unser toxisches System offen in Frage“, ist Prinzip Nr. 4 von Extinction Rebellion. Und das ist schon bemerkenswert genug. Hat die jetzt regierende Generation, also meine Generation, nicht alles versucht, um aus den jungen Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, Karrieristen und Konsummonster zu machen? Lerndruck schon im Kindergarten, Schulzeit verkürzt, Studium verschult, Bildung zur Ausbildung verkümmern lassen. Schon in der Kindheit und der Jugend keine Zeit mehr gelassen für Spiel und Kreativität. Leistungsdruck auch im Freizeitbereich. Jeden Winkel der Gesellschaft durchökonomisiert. All die Mühe soll vergebens gewesen sein?
Die jungen Aktivist*innen sind nicht perfekt. Wie sollten sie auch? Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie nicht einfach verzweifeln. Und gar nicht genug würdigen kann man, dass sie nicht den Kopf in den Sand stecken. Sie müssen sich wie Erwachsene verhalten, weil die Erwachsenen zunehmend infantilisieren. Schön abzulesen an der Tatsache, dass im Kino fast nur noch Comic-Verfilmungen große Kasse machen, die die Sehnsucht nach schlichten Bösewichten und strahlenden Helden bedienen, die uns vor jenen retten werden. Doch um es im Anklang an den Text der „Internationale“ zu sagen: Es retten uns kein Captain Marvel, kein Iron Man und auch kein Thor. Und die junge Generation weiß das. Sie weiß, dass es auf sie ankommt. Sie ist nicht für billige Versprechen zu haben. Sie lässt sich nicht korrumpieren. Sie lässt sich nicht beschwichtigen. Sie lässt sich nicht belügen. Und sie weiß 27.000 Wissenschaftler an ihrer Seite.
Für den 20. September ruft FridaysForFuture zu einem globalen Klimastreik auf und fordert explizit alle Generationen auf, auf der Straße dabei zu sein. Ich hoffe, sie bekommen endlich die Unterstützung, die sie verdienen.
Erwachsene allen Alters, lasst die junge Generation nicht im Regen stehen!
Übernehmt Verantwortung!
Streikt mit!