Ein Interview mit Esteban Servat
über seinen Kampf gegen Fracking, Konzerne und Klimakolonialismus
Lesezeit: 30 Minuten
“Sauberes Gas ist eine schmutzige Lüge“, sagt Esteban Servat. In seiner Rede vor dem Berliner Firmensitz der Wintershall DEA erklärt der Anti-Fracking-Aktivist am 11. Dezember des vergangenen Jahres, dass Fracking erwiesenermaßen eine Hauptursache der Klimakrise ist. [1] [2] [3] [4] Auf der ganzen Welt haben sich an diesem Tag in mehr als 15 Ländern Umweltaktivist:innen versammelt, um Shale Must Fall ins Leben zu rufen – eine internationale Solidaritätskampagne, die Bewegungen des Globalen Südens mit denen des Globalen Nordens vereint. [5] Esteban gehört zu den Initiator:innen dieser Kampagne. [6]
Zehn Jahre lang hatte der Biologe im Silicon Valley in der Biotech-Branche gearbeitet, bevor er nach Argentinien zurückkehrte, um in der Region Mendoza eine Ökokommune aufzubauen. Das Vorhaben entwickelte sich ausgezeichnet, bis Fracking Einzug hielt und Esteban beschloss, gegen die Zerstörung zu kämpfen. Massive Repressionen der argentinischen Regierung zwangen ihn 2018, sein Land zu verlassen.
In Berlin, wo er heute im Exil lebt, sind wir am 29. April zu einem Interview verabredet. Welch bahnbrechendes Signal für Klimagerechtigkeit kurz danach aus Den Haag kommen wird, wissen wir an diesem Tag noch nicht: Im Klimaschutzprozess gegen den Ölkonzern Shell spricht am 26. Mai ein niederländisches Gericht ein historisches Urteil und schafft damit zugleich einen Präzedenzfall. Das Gericht befindet, dass Shell für CO2-Emissionen verantwortlich ist, die zur Erderhitzung beitragen und gefährliche Folgen für die Menschen haben. Nun ist Shell gesetzlich verpflichtet, bis zum Jahr 2030 seinen Treibhausgasausstoß um 45 Prozent netto zu verringern (im Vergleich zum Stand des Jahres 2019). [7]
Regen ist angekündigt. Der Ort für unser Gespräch muss also nicht nur ruhig und pandemiekonform sein, sondern auch regengeschützt. Wir treffen uns auf der überdachten Terrasse am Haus der Materialisierung. Mit vielen Fragen bin ich gekommen – zu Fracking, Klimakolonialismus und Umweltaktivismus im Globalen Süden, zur unverhältnismäßigen Macht der Konzerne und wie wir sie brechen können – und zu Estebans persönlicher Geschichte, in der sich all dies zu verbinden scheint.
Birgitta: Esteban, heute soll in Berlin eine XR-Aktion zu Fracking stattfinden. Warst du daran auch beteiligt, an den Planungen?
Esteban: Ja, heute ist die Aktionärsversammlung bei BASF, und XR Berlin wird dazu eine Aktion veranstalten. Ich war daran aber nicht wirklich beteiligt.
Ist BASF auch im Fracking-Geschäft tätig?
BASF ist die Muttergesellschaft von Wintershall.
Dem deutschen Gasunternehmen, das in Argentinien frackt …
Genau. Auch in Mannheim wird deshalb heute eine Aktion zu Fracking stattfinden. Und Extinction Rebellion postet jeden Tag etwas zu dem Thema.
Die schweigende Wissenschaft
Als wir uns im März bei der Berliner XR-Aktion zum internationalen Tag des Wassers getroffen haben, hast du über die Konsequenzen von Fracking auf die Trinkwasserqualität gesprochen. Du hast dort aber nicht nur eine Rede gehalten, sondern du warst auch Schauspieler in einem Theaterstück vor dem Konzerthaus am Gendarmenmarkt, in dem du die Rolle eines Wissenschaftlers gespielt hast.
Ja, ich war der schweigende Wissenschaftler - der zum Schweigen gebrachte Wissenschaftler. Manon hat den Wintershall-CEO gespielt und hat Klebeband auf meinen Mund geklebt, um zu verhindern, dass die Wissenschaft zu den Menschen gelangen kann.
Würdest du sagen, dass das ein Symbol sein kann? Eine Metapher für die Situation, in der wir uns gerade befinden?
Sehr sogar, ja. Diese Unternehmen im Fracking-Business arbeiten aktiv daran, die Wissenschaft zu leugnen oder diese mit alternativen Daten zu ersetzen, die es ihnen erlauben, weiterhin falsche Narrative zu verkaufen.
Was sind das für Narrative?
Zum Beispiel die Behauptung, dass Gas sauber sei. Dass Gas eine Brücke in die Zukunft sei, für einen „grünen Übergang“. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als das.
Gerade vor ein paar Tagen ist in der NY Times ein Artikel erschienen, in dem es heißt, dass die Folgen von Fracking noch verheerender sind als bisher bekannt war. Er beruft sich auf eine neue Studie, in der das nachgewiesen wurde. Was bedeutet das für dich und für die Klimagerechtigkeitsbewegungen? [8] [9]
Es freut mich zu sehen, dass das Thema endlich auf höchster Ebene in die Klimadebatte eindringt, denn bisher wurde dazu nicht nur geschwiegen, sondern das Thema wurde auch geradezu totgeschwiegen, bis jetzt. Dass Gas und Fracking wesentliche Treiber der Klimakrise sind, ist bisher in der etablierten Klimadebatte nur am Rande erwähnt worden.
Ein Beispiel: Der IPCC hat in den vergangenen Jahren immer davor gewarnt, dass die Methanemissionen ein Rekordniveau erreicht haben, ohne dabei aber Gas und Fracking zu erwähnen, obwohl diese zu den wesentlichen Verursachern gehören.
Wenn du auf der IPCC-Website den Begriff „Fracking“ suchst, wirst du in den Berichten fast nichts dazu finden. Wenn Fracking erwähnt wird, dann nur, um es als „Schlüsselentwicklung seit AR4“ anzupreisen. [10]
Mittlerweile haben bahnbrechende Studien wie die von Dr. Howarth von 2019 gezeigt, dass Fracking im vergangenen Jahrzehnt für 50 % aller erhöhten Methanemissionen aus fossilen Brennstoffen weltweit verantwortlich ist und für etwa ein Drittel der gesamten erhöhten Methanemissionen aus allen Quellen weltweit. [11]
Das Bewusstsein, das Wasser zu verteidigen
In der Wassertags-Performance hast du einen Wissenschaftler gespielt, und auch im wirklichen Leben bist du Wissenschaftler, du bist Biologe. Warum hast du dich entschieden, das Silicon Valley zu verlassen, wo du für ein Biotech-Unternehmen gearbeitet hast?
Ich habe dort zehn Jahre in der Biotech-Welt gearbeitet, und ich war nicht sehr glücklich in diesem Leben. Es ist eine sehr technokratische Welt, sehr entmenschlicht. Große Konzerne, keine soziale Verantwortung, kein Gemeinschaftssinn. Alles dreht sich nur ums Geld. Ich hatte das satt. Deshalb ging ich zurück in mein Heimatland Argentinien, um ein Ökodorf aufzubauen – eine selbsttragende und multikulturelle Gemeinschaft. Das war meine Idee, es war ein Non-Profit-Projekt. Ich zog in die Provinz Mendoza im Westen Argentiniens.
Warum ist Deine Wahl auf Mendoza gefallen?
Mendoza hat eine Umweltgeschichte, die einzigartig ist. Es ist ein besonders schöner Ort. Die besten Weine Argentiniens werden dort angebaut, und Mendoza ist auch bekannt für Bergsteigen, denn dort befindet sich der zweithöchste Gipfel der Welt außerhalb des Himalayas, der Aconcagua. Das zieht viele Tourist:innen an.
Und Mendoza ist eine Wüste. Lediglich drei Prozent der Fläche sind bebaut, 97 Prozent sind Wüste. Aus diesem Grund ist bei den Menschen, die dort leben, bereits in ihrer DNA ein sehr starkes Bewusstsein angelegt, dass sie ihr Wasser verteidigen müssen. Das ist sehr bedeutsam, denn die Menschen in Mendoza sind nicht unbedingt Aktivist:innen, aber jede:r kämpft für das Wasser. Egal, ob sie Moslems, Juden oder Katholiken sind, ob Linke oder Konservative - sie sind alle aktiviert. Nicht alle natürlich, aber die allermeisten.
Vor dreizehn Jahren haben die Bewohner:innen Mendozas z. B. ein Mega-Bergbau-Vorhaben verhindert. Es gab konkrete Pläne für ein „Mountain Top Mining“-Projekt, wirklich gewaltige Eingriffe standen unmittelbar bevor - vielleicht hast du von Barrick Gold gehört. Diese riesigen multinationalen Konzerne, die Gold, Silber und andere Metalle abbauen, bedienen sich überaus kontaminierender Techniken. Z. B. werden ganze Berge mit Dynamit gesprengt. Das Gestein wird in kleine Teile zerlegt, und es werden gigantische Becken mit Gletscherwasser angelegt. Dabei werden eine Menge Chemikalien eingesetzt, um das Gold und Silber von den anderen Partikeln zu trennen. Dadurch wird das Wasser verseucht, das dann in die Grundwasserspeicher sickert. Manchmal gelangt es auch in die Flüsse und zerstört Lebensgrundlagen und Gemeinschaften. Diese Verfahren treiben auch die Klimakrise voran. Ich meine, einen gesamten Berg abzutragen, einen ganzen Gletscher zu erhitzen – das ist doch Wahnsinn. Überall auf der Welt wird das praktiziert, vor allem in Ländern des Globalen Südens. Afrika und Lateinamerika sind die Hauptquellen für die meisten dieser Metalle.
In Mendoza ist es den Menschen tatsächlich gelungen, dieses Mega-Bergbauprojekt zu verhinden? Das ist ja ziemlich erstaunlich. Wie war das möglich?
Mendoza war einzigartig. 2007 gingen die Menschen zu Tausenden auf die Straßen – und am Ende haben sie gesiegt. Sie haben das Parlament von Mendoza so stark unter Druck gesetzt, dass die Regierung gezwungen war, ein Gesetz zu verabschieden, das den Mega-Bergbau verbietet.
Das ist der Grund, warum ich mich entschieden habe, dorthin zu ziehen, um die Gemeinschaft zu gründen. Denn ich habe gespürt, dass das ein Ort ist, an dem die Menschen ein Bewusstsein dafür haben, ihre Umwelt zu verteidigen. Ich wusste: Wenn es in Zukunft wieder eine Bedrohung geben wird, werden sie sich mobilisieren.
Vaca Muerta
Du bist also nach Mendoza und hast die Öko-Kommune aufgebaut. Wie bist du auf das Thema Fracking gekommen?
Fracking kam zu uns. Fracking kam zu mir. Ich war damals kein Aktivist. Ich habe versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, aber nicht aus der Perspektive eines Aktivisten, sondern ich habe einfach überlegt, was ich von meinem Ort aus tun kann, damit sich lokal etwas zum Besseren verändert. Das begann damit, dass wir unseren CO2-Fußabdruck reduzierten, indem wir unsere eigenen Lebensmittel anbauten, Ökohäuser aus recycelten Materialien bauten, erneuerbare Energieformen entwickelten und nutzten und dieses gemeinnützige Projekt aufbauten, das Menschen aus der ganzen Welt einlud, kostenlos mitzumachen und ein Stück Land zu erhalten. Wir hatten eine Menge Land, also boten wir für Menschen, die dabei sein wollten, kostenlose Parzellen an. Das war meine Idee und meine Art von Aktivismus. Doch dann begann das Fracking.
Das war dann nur kurze Zeit, nachdem du nach Mendoza gekommen bist?
Ja. Ein paar Jahre, nachdem wir das Projekt begonnen hatten, das sich sehr gut entwickelte. Mit ganz wenigen Mitteln haben wir getan, was wir konnten, und die Regierung hat uns dabei sehr unterstützt. Sie war ausgesprochen froh über uns, denn wir brachten wieder Leben in einen Ort, der vorher entvölkert war. Die Gemeinde hat also sehr profitiert von unserem Projekt.
Aber dann brachte die Regierung das Fracking.
In Argentinien gibt es Sonne und Wind im Überfluss. Warum Fracking?
Mendoza liegt auf dem zweitgrößten Schiefergas- und auf dem viertgrößten Schieferölbecken der Welt, genannt Vaca Muerta. Es ist eine immense Kohlenstoffbombe für unseren Planeten. Es wurde gezeigt, dass es – vollständig ausgebeutet durch Fracking – 15 % des gesamten globalen Kohlenstoffbudgets verbrauchen wird, das uns zur Verfügung steht, wenn wir das Pariser Abkommen zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels einhalten wollen. [12]
Mendoza ist ein Teil von Vaca Muerta, es liegt an der Nordspitze. In die übrigen Gebiete von Vaca Muerta kam das Fracking schon früher, 2012. Nach Mendoza zuerst nicht, denn die Regierung hatte es nicht gewagt, Fracking dort einzuführen, weil die Menschen dort dieses starke Bewusstsein für das Wasser haben. Fracking verbraucht und kontanimiert enorme Mengen an Wasser. [13]
Warum hat sich das später verändert?
Es hat sich 2018 verändert, als ein neuer Gouverneur namens Cornejo nach Mendoza kam. Er hatte zwölf Jahre zuvor an den Aktionen der Aktivist:innen gegen den Bergbau teilgenommen, und das hat er politisch genutzt, nachdem er Gouverneur geworden war – ebenso wie auch viele andere Bürgermeister und Parlamentarier. Sie waren ursprünglich Teil der Aktivist:innengruppen und hatten deshalb viele Verbindungen zu diesen Aktivist:innen. Deshalb wussten sie, wie sie den Aktivismus neutralisieren konnten. Cornejo war derjenige, der die Provinz an das Fracking verkauft hat. Mit einer illegalen, verfassungswidrigen Verordnung brachte er es in die Provinz, um es zu genehmigen.
Die erste Fracking-Bohrung begann Ende 2017 unter dem Deckmantel eines Pilotversuchs. Als ich davon erfahren hatte, war ich sehr alarmiert. Denn ich wusste, was Fracking war. Und ich war auch sehr beunruhigt über die Stille.
Gab es Medien, die über den Pilotversuch berichtet haben?
Die Medien haben darüber gar nichts berichtet. Das größte Medien-Konglomerat von Mendoza waren die Besitzer des ersten Fracking-Unternehmens. Es gab diese Interessenkonflikte, denn alle waren am Frackinggeschäft beteiligt. Viele in der Regierung von Mendoza waren zwölf Jahre davor auch Teil des Kampfes der Aktivist:innen gegen den Bergbau. Einige von ihnen waren korrupt – wie der Gouverneur und die Bürgermeister und andere. Es gab aber auch einige, die nicht korrupt waren und die nicht glücklich darüber waren, dass Fracking eingeführt wurde.
EcoLeaks
Wann hast du dich entschieden, nicht ein schweigender Wissenschaftler zu sein, sondern gegen das Fracking zu kämpfen?
Es gelang mir, von einem Whistleblower, der in der Wasserbehörde beschäftigt war, Informationen aus der Regierung zu erhalten. Das Wasser ist in Mendoza so wichtig, dass es seine eigene Behörde hat. Diese Behörde sollte eigentlich unabhängig von der Regierung sein, aber natürlich ist sie das nicht. Es haben dort aber Techniker gearbeitet, die Studien durchführten.
Es gab eine Umweltverträglichkeitsstudie zur ersten Fracking-Bohrung in Mendoza – die Pilotbohrung. Die Ergebnisse waren vernichtend. Sie zeigten, dass das Fracking-Business bereits den Grundwasserspiegel kontaminierte. Deshalb hat die Regierung diesen Bericht geheim gehalten. Es fand eine öffentliche Anhörung zu dem Fall statt, bei der die Regierung die Ergebnisse vertuschte. Der Whistleblower sagte mir auch, dass die Regierung plane, die Ergebnisse durch gefälschte Resultate zu ersetzen, die sie von einem Universitätslabor erhalten wollte, dessen Vize-Dekan ebenfalls ein Vertreter des Fracking-Unternehmens war.
Du siehst also, welche Interessenkonflikte es dort gab – die Medien, die Universität, die Regierung … Sie alle waren im Bett mit dem Frackingunternehmen. Doch es gelang mir, eine Kopie dieses Berichts zu bekommen.
War das der Moment, als du EcoLeaks gegründet hast?
Ja. Wir sagten uns: Die Welt braucht eine Umweltversion von WikiLeaks. Also gründeten wir EcoLeaks.
Du sagst „wir“ – gab es Menschen, die dich dabei unterstützt haben?
Es gab noch zwei andere Wissenschaftler:innen, die mir halfen. Zusammen mit ihnen gründete ich EcoLeaks, und zwar auf eine sehr südamerikanische Art – mit einfachster Technologie, es gab nur eine Website und eine Facebookseite. Denn wir hatten dringenden Zeitdruck, diesen Bericht zu veröffentlichen. Es war am 16. Mai 2018, als wir ihn veröffentlicht haben. [14] [15]
Wie hat die Regierung reagiert nach der Veröffentlichung? Und die Bevölkerung und die Medien?
Die Veröffentlichung löste einen Krieg mit der Regierung aus, zugleich aber eine Revolution in der Bevölkerung. Die Regierung begann sofort, alles abzustreiten. Es war an einem Freitag, als wir die Dokumente veröffentlicht hatten, der darauf folgende Samstag war arbeitsfrei. An diesem Samstag publizierten alle offiziellen Regierungs-Webseiten Nachrichten über Fracking, in denen unser Bericht dementiert wurde und behauptet wurde, Fracking sei völlig sauber und nichts sei kontaminiert. Es war sehr offensichtlich, und sämtliche Medien sagten dasselbe.
Doch dann unterliefen der Regierung Fehler und sie begann, sich zu widersprechen. Einige Beamte aus einer Stadt widersprachen dem, was andere gelogen hatten. Sie waren nicht besonders smart. Sie haben sich gegenseitig widersprochen, und ich habe immer wieder insistiert, dass unser Report zutreffend war und habe versucht, damit in einige kleinere Medien zu kommen.
Die Entscheidung zu kämpfen
Als du diese geheimen Dokumente enthüllt hast: Hattest du dabei nicht auch Angst? Soviel Geld, das da im Spiel war, und all die Politiker:innen, die an dem Geschäft beteiligt waren …
Ich sage Dir etwas, das ich noch keinem Menschen gesagt habe: Als ich diese Dokumente veröffentlicht habe, hatte ich das Gefühl, dass das vielleicht einem Selbstmord gleichkommt. Denn es war mir ja bewusst, dass ich damit ein sehr dunkles, sehr korruptes und gewaltiges Interesse angreife.
Aber dennoch hast du dich entschieden, den Bericht zu veröffentlichen. Was war deine Motivation? Was hat dir den Mut gegeben, dieses Risiko einzugehen?
Ich war davon überzeugt, dass das getan werden musste. Hätte ich’s nicht getan, hätte ich mich selbst belügen müssen. Denn ich wusste, dass mein Vorhaben, eine Ökokommune aufzubauen, nicht möglich ist mit Fracking. Es war mir klar, dass das mit Fracking keine Zukunft haben würde, weil das Wasser austrocknen und verseucht würde und die Erdbeben die Öko-Häuser zerstören würden. Natürlich war mir auch bewusst, dass das nicht nur unsere Gemeinschaft betraf, sondern die gesamte Region zerstört werden würde, dass die gesamte Landwirtschaft, die Lebensgrundlage und das Leben von allen zerstört werden würde und dass es Krankheiten verursachen würde.
War für dich also von Anfang an klar, dass du dich mit dem Fracking nicht arrangieren wirst und auch nicht weggehen willst, sondern dagegen kämpfen wirst?
Ja. Denn ich hatte das Gefühl, dass ich gar keine andere Wahl hatte als zu kämpfen. Ich stand vor der Entscheidung: Was soll ich tun? Soll ich weg schauen oder mich der Situation stellen? Ich habe mich dafür entschieden, dem Problem entgegenzutreten.
Du hättest die Option gehabt, zurück zu einem Job im Silicon Valley zu gehen. Hast du jemals daran gedacht?
Nein, für mich gab es keinen Weg zurück ins Silicon Valley, denn ich war dort nicht glücklich. In den USA zu leben, dieses System, diese industrialisierte Welt, das Konsumdenken und die Oberflächlichkeit: All das war mir so zuwider, dass ich lieber in Mendoza kämpfen wollte als dorthin zurück zu gehen.
Und ich war auch sehr froh, dass es uns gelungen war, diesen Bericht zu bekommen. Ich hatte gar keine andere Wahl, als ihn zu veröffentlichen und dann zu schauen, was geschehen würde.
Massenmobilisierung und die Medien
Welche Rolle haben Social Media gespielt in Deinem Kampf?
Die Social Media waren der Schlüssel. Was sich auf Facebook ereignete, war sehr nützlich. Alle in Mendoza nutzten Facebook, das hat also wirklich geholfen, unsere Nachrichten zu verbreiten. Als ich von ein paar kleinen Radiosendern interviewt wurde – sie waren mutig genug, mich zu interviewen – bekamen wir die Audiodatei und teilten sie auf YouTube, WhatsApp und Facebook. Daraufhin ging unsere Botschaft viral, und die Menschen glaubten viel eher einem Wissenschaftler als einem Politiker. Danach sind der Regierung dann diese Fehler unterlaufen.
Und die traditionellen Medien? Haben einige von ihnen danach dann auch über die Sache berichtet?
Ja, es gab eine große Tageszeitung, die nicht Teil dieses Konglomerats von Eigentümern des Frackingunternehmens war, sondern vielmehr eine Konkurrentin. Diese Zeitung hatte beschlossen, einen Artikel über die Sache zu veröffentlichen. Sie unternahm ihre eigenen kleinen Recherchen, für die sie das Labor kontaktierte, in dem der Bericht erstellt worden war. Und die Leiterin dieses Labors bestätigte, dass der Bericht korrekt war. Worum es sich bei den Ergebnissen handelte, konnte sie nicht bestätigen, weil es ein Doppelblind-Verfahren war. Was sie aber bestätigen konnte, war: „Ja, das ist unsere Berichtnummer und das ist meine Unterschrift.“. Dadurch wurde die gesamte Regierung in eine Krise gestürzt, weil damit ihre Lügen ans Tageslicht traten.
Dies war der Moment, an dem die Menschen begannen, sich massenhaft zu mobilisieren. Tausende, Zehntausende gingen auf die Straßen, in der gesamten Provinz – sogar noch mehr als zwölf Jahre zuvor gegen den Mega-Bergbau. In der Stadt, in der ich damals lebte – einer kleinen Stadt mit 30.000 Einwohnern - waren 15.000 Menschen auf der Straße.
Und natürlich war all das, was ich Dir erzählt habe, unsichtbar. Die Medien haben größtenteils geschwiegen. Ein paar wenige Medien haben darüber berichtet, doch in Deutschland hast du davon wahrscheinlich nie etwas gehört. Ich kann mich erinnern, dass ich in dieser Zeit einmal Nachrichten aus Berlin gesehen habe – es waren Weltnachrichten: 15.000 Menschen in Deutschland haben gegen die AfD demonstriert. Wenn in der Millionenstadt Berlin 15.000 Menschen auf die Straße gehen – das war also eine Weltnachricht. Zur selben Zeit haben in Argentinien aber in einer Stadt mit nur 30.000 Einwohnern 15.000 Menschen gegen Fracking demonstriert, und darüber hat niemand berichtet.
Die Medien hatten auch Klebeband auf dem Mund? Wie der Wissenschaftler in der Wassertags-Performance?
Absolut, ja. Bis auf ein paar ganz wenige Medien. Wir hatten Glück, dass einige nationale Medien über die Sache berichtet haben. Das hat geholfen, die Zensur in der Provinz zu durchbrechen. Und du darfst ja nicht vergessen: Immerhin war es im zweitgrößten Schiefergasbecken der Welt, wo wir für Unruhe gesorgt haben. Es ging also um Billionen von Euro.
Repressionen
Du hast neulich von Repressionen gesprochen, von Maßnahmen der Regierung gegen dich …
Ja, die Regierung hat versucht, uns einzuschüchtern – mit allen erdenklichen Mitteln: mit Drohungen, mit illegalen Maßnahmen gegen uns. Ich bin nicht der Einzige, doch von denen, die gegen Fracking kämpfen, bin ich in Argentinien derjenige, gegen den die meisten Strafverfahren anhängig sind. Die Regierung benutzt das Justizsystem, ein wirkliches Rechtssystem existiert nicht in Argentinien. Das Justizsystem ist vielmehr eine korrupte Waffe der Regierung und der Unternehmen, um Aktivist:innen zu verfolgen. Regierung und Unternehmen benutzen die Justiz für ihre Zwecke und erfinden Geschichten, auch gemeinsam mit den Medien.
Welche Art von Geschichten waren das?
Sie haben illegale Drogen auf unsere Farm gebracht und dann behauptet, wir seien Drogendealer und deshalb sollte gegen uns ermittelt werden. Darauf folgte eine Medienkampagne, in der dasselbe behauptetet wurde. Sie haben gefälschte Dokumente benutzt, um in unsere Farm einzubrechen. Sie haben gefälschte Regierungsdokumente geschickt, in denen es hieß, die Hälfte unserer Farm sei ihr Eigentum. Sie brachen mit einem Bulldozer der Regierung in die Farm ein. Sie zerstörten einen einheimischen Wald, dessen Bäume vom Aussterben bedroht sind und errichteten in aller Eile ein paar Pfosten, um behaupten zu können, dass sie etwas auf dem Grundstück gebaut hatten. Dann kamen sie mit einem Notar, der beglaubigen sollte, dass es ihr Eigentum sei. Das Grundstück war sehr weitläufig, es war Wildnis und unbesiedelt, ich bin also nicht jeden Tag durch alle Viertel patrouilliert. Erst nach einiger Zeit habe ich bemerkt, was vor sich ging, nachdem mir ein Nachbar gesagt hatte, dass sie von einer sehr abgelegenen Ecke aus in die Farm eingedrungen waren.
Dann ging ich zur Polizei, und sie gingen ebenfalls zur Polizei, um uns anzuzeigen, als ob wir in ihr Eigentum eindringen würden. Wir haben diese Verfahren gewonnen. Doch die Regierung verfolgte das Ziel, uns zu zermürben, uns Angst einzujagen und unsere Ressourcen auszutrocknen, denn wir brauchten ja einen Anwalt. Sie haben alle möglichen Arten von Rechtsfällen erfunden.
Welche Straftaten sind Dir vorgeworfen worden?
Sie haben mich z. B. beschuldigt, gewalttätig zu sein, und in einem Prozess wird mir „öffentliche Einschüchterung“ vorgeworfen. Das ist wahrscheinlich der absurdeste Fall, denn hier besteht die Straftat darin, dass ich die wissenschaftliche Wahrheit über Fracking gesagt habe und dass ich den Grund dafür genannt habe, warum es in Europa und vielen anderen Orten verboten ist (wie z. B. auch im Staat New York).
Mir wurde vorgeworfen, dass ich lüge und dass ich für Panik in der Bevölkerung verantwortlich sei. Sie sagten, es sei eine soziale Panik gewesen, die die Menschen dazu brachte, sich zu mobilisieren, und das sei meine Schuld gewesen. Ich wurde also verfolgt, weil ich für öffentliche Einschüchterung verantwortlich sei, das ist eine Straftat. Wegen aller möglichen Dinge haben sie mich angeklagt, wir lebten in einem sehr repressiven Umfeld.
Und wie gesagt, ich war nicht der Einzige, gegen den Strafverfahren liefen. Sie haben auch Menschen ins Gefängnis gesteckt, sie kreierten Prozesse gegen jeden in der Provinz, der unbequem wurde. Die Regierung versuchte verzweifelt, die Menschen zum Schweigen zu bringen. Sie wollte ein Exempel an denjenigen statuieren, die am meisten störten. Sie wollen zeigen, dass sie dich unterdrücken können, sie werfen mit Strafverfahren nach Dir, damit du Angst bekommst und nach Hause gehst und besser den Mund hältst. Ich habe sie dann noch mehr provoziert. Wenn sie mich verklagt haben, habe ich zurück geklagt, und manchmal haben wir gewonnen.
Ganz schön mutig.
Ja, und zugleich war es auch sehr ermutigend für die Menschen. Für mich entstanden aber auch immense Kosten, denn die Regierung hat ja die ganze Macht, und die Unternehmen und die Medien und das Justizsystem, alle zusammen – es ist eine Mafia. Ich wusste also, dass mich das jederzeit umbringen kann. Schließlich ist es mir Anfang 2019 - nach einem sehr intensiven Jahr mit vielen Kämpfen und Massenprotesten - gelungen, ein paar Strafverfahren der Regierung gegen mich zu gewinnen, und ich habe dann gegen sie zurück geklagt.
Eines dieser Verfahren war das des Bürgermeisters meiner Stadt, der eine persönliche Klage gegen mich eingereicht und diese verloren hatte. Dann habe ich ihn angeklagt, weil seine Anklage gefälscht war – das ist eine Straftat. Außerdem hat er sich in einer privaten Angelegenheit von einem Anwalt der Regierung vertreten lassen – das ist illegal, das ist Missbrauch von öffentlichen Geldern. Ich wollte helfen, die Bewegung wiederzubeleben, die durch all die Verfolgung und Angst im Sterben lag. Also reichte ich eine Klage gegen den Bürgermeister ein, mitten im Wahlkampf, als er zur Wiederwahl antrat.
Das war zu einem Zeitpunkt, als die Todesraten zunahmen und die Bedrohungen sich nicht mehr nur gegen mich richteten, sondern auch gegen meine Familie. Ich bekam Telefonanrufe mit detaillierten Informationen über die Bewegungen meiner Freundin. Sie ist aus Deutschland und war zu der Zeit in Chile, um ihr Visum zu verlängern, denn sie war mit einem Touristenvisum unterwegs. Da bekam ich diesen Anruf – sie kannten all ihre Bewegungen, sie wussten, wo sie sich aufgehalten hatte und was sie gemacht hatte. Und sie sagten, wenn ich weitermachen würde, dann würde sie dafür den höchsten Preis zahlen. Also verstand ich, dass es zu diesem Zeitpunkt besser war, das Land zu verlassen. Wären wir geblieben, wären wir jetzt wahrscheinlich tot.
Gab es gegen andere Aktivist:innen ähnliche Repressionen?
Was ich Dir erzählt habe, ereignete sich im Kontext einer extremen Verfolgung für alle. Ende 2018 ist es der Regierung gelungen, im Parlament einen „Code of Conduct“ zu verabschieden – das ist ein Paket von Maßnahmen, die den Protest kriminalisieren. Es ist ganz ähnlich wie der Code of Conduct, den es in Argentinien während der Diktatur in den 1970er Jahren gab. Die Regeln sind äußerst absurd. Z. B. kann eine Gefängnisstrafe verhängt werden oder ein hohes Bußgeld angeordnet werden, wenn du in den sozialen Medien etwas über den Gouverneur sagst oder wenn du zu einer Demonstration aufrufst. Die Menschen waren also verängstigt.
Hinzu kommt, dass die meisten Städte in Mendoza eher klein sind. Jede:r kennt jede:n, und die meisten Menschen haben Verwandte, die für die Regierung arbeiten, denn es gibt nicht viel Privatwirtschaft. Die Leute sind also entweder Lehrer:innen oder Angestellte im öffentlichen Dienst oder Ärzt:innen in Krankenhäusern, und das nutzt die Regierung, um den Menschen zu drohen: „Wenn dein Bruder für den Staat arbeitet, können wir ihn feuern.“
Eine ermutigende Botschaft
Du hast gesagt, dass du einen Prozess gegen den Bürgermeister gewonnen hast?
Ja, die Klage, die er gegen mich erhoben hatte, hat er verloren, also habe ich das Verfahren gewonnen.
Bedeutet das, es gab manchmal doch so etwas wie ein funktionierendes Rechtssystem?
Nein, denn der Grund waren die Menschen. Der Bürgermeister hatte Angst vor seinen eigenen Leuten, vor den Menschen in der Stadt. Denn nachdem wir das Dokument veröffentlicht hatten, war es sehr offensichtlich, dass er mitschuldig an der Verheimlichung der Daten war.
Die Menschen waren wütend auf ihn, weil er mit der Verteidigung des Wassers an die Macht kam und dann sein Wahlversprechen brach, indem er den Interessen des Fracking in die Hände spielte. Vor der Wahl hatte noch versprochen, sich für das Wasser einzusetzen, und danach war er Teil der Fracking-Mafia. Nachdem er seine Klage gegen mich eingereicht hatte, sollten wir uns in einer öffentlichen Anhörung von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Er hatte wohl erwartet, dass ich ihn um Entschuldigung bitten würde. Da ich aber wusste, dass er Furcht vor der Bevölkerung hatte, ging ich stattdessen einfach auf Facebook und rief die Menschen auf. Ich sagte: „Wenn wir alle zusammen kommen, wird er Angst haben und nicht erscheinen, und damit wird er verlieren.“ Sehr viele kamen, um mich zu unterstützen, und der Bürgermeister fürchtete so sehr die Menschen, dass er nicht zur Anhörung erschien. Deshalb hat er verloren und musste den Fall auf eine äußerst beschämende Art aufgeben. Ohne Geld und ohne Macht ist es uns also gelungen, den mächtigsten Menschen der Stadt zu besiegen. Das ist eine überaus ermutigende Botschaft für Aktivist:innen.
Social Media scheinen immer wieder ein sehr effektives Werkzeug in Deinem Kampf zu sein.
Ja, alles mit Social Media. Wir gründeten eine Facebook-Gruppe, die zur größten der Welt wurde. Sie hat mehr als 57.000 Mitglieder und heißt Mendoza sin Fracking. [16] [17] Das ist unsere schärfste Waffe, unsere Kommunikations-Waffe. Wenn wir eine Aktion haben oder einen Vorschlag oder andere wichtige Informationen, ist das die Möglichkeit, die tatsächlichen Nachrichten zu erfahren. Denn die meisten Medien stecken mit dem Fracking unter einer Decke. Was wir erreicht haben, haben wir also vor allem Social Media zu verdanken, ja.
Fracking und die Wissenschaft
In deinen Reden erklärst du die Konsequenzen und Risiken von Fracking: die Methan-Emissionen und ihre Auswirkungen auf die Erderhitzung, die Chemikalien in der Frackingflüssigkeit, die das Wasser und den Boden vergiften und Krankheiten verursachen. Der Prozess steht sogar unter Verdacht, Erdbeben oder Vulkanausbrüche auszulösen.
Gibt es ernstzunehmende Wissenschaftler:innen, die die Risiken von Fracking anders bewerten als Du?
Ja, die Industrie hat eine Vielzahl eigener Publikationen.
Ich meine, seriöse Wissenschaftler:innen …
Natürlich nicht, diese Wissenschaftler:innen der Fracking-Industrie sind nicht seriös in unseren Augen, doch es wird versucht, sie seriös erscheinen zu lassen. Diejenigen, die wir zu unterstützen versuchen – also die kompetenten Wissenschaftler:innen zum Thema Fracking - sind in der Minderheit. Die meisten Wissenschaftler:innen sprechen nicht so über die Sache, wie es angemessen wäre.
Einen bedeutenden Namen gibt es zu Methan und Fracking, das ist Dr. Robert Howarth von der University of Cornell in New York, den ich schon erwähnt habe. Er hat wirklich wichtige Arbeiten über die Auswirkungen von Fracking auf die Erderhitzung veröffentlicht und bahnbrechende Studien zu dem Thema erstellt. Zum Beispiel die Untersuchung von Ende 2019, die zeigt, dass Fracking innerhalb der letzten zehn Jahre für mehr als 50% aller weltweit gestiegenen Methanemissionen aus fossilen Brennstoffen verantwortlich ist. [18]
Wenn man alle Quellen berücksichtigt, einschließlich biologischer Quellen, ist Fracking für mehr als ein Drittel des gesamten Anstiegs verantwortlich. Das ist immens. Fracking hat einen ganz wesentlichen Anteil an der Beschleunigung der globalen Erderhitzung.
Du hast nach seriösen Wissenschaftler:innen gefragt, also antworte ich: Seriöse Wissenschaftler:innen sind diejenigen, die für den IPCC und für die COP und so weiter arbeiten. Versuche mal, das Thema beim IPCC zu finden. Die sagen dazu nichts. In den letzten Berichten heißt es: „Methan steigt auf Rekordniveau.“ Aber suche mal nach dem Wort „Fracking“. Was wirst du finden? Du findest einen Bericht von vor ein paar Jahren, in dem sie Fracking sogar lobpreisen. Darin heißt es, dass die USA dank Fracking ihre Treibhausgasemissionen reduzieren, weil es einen Übergang von Kohle zu Gas ermögliche. [19]
Die “Brückentechnologie“.
Ja. Und das ist der IPCC. Das zeigt doch, wieviel Macht hinter dieser Industrie steckt.
Unter Trump – und in den USA bis heute – heißt die offizielle Fracking-Politik: Amerikanische Energie-Dominanz in der Welt. Fracking ist nichts anderes als die imperiale Strategie der USA, um die Welt mit ihrem Gas zu beherrschen. Es verändert die Energiematrix in der Welt radikal. Das sind nicht meine Worte, sondern das ist das offizielle Weiße Haus. Sie haben das sehr eindeutig formuliert. [20]
Meinst Du, das wird sich nun ändern mit Biden?
Nein. Bisher hat sich das ganz klar nicht geändert unter Biden. Ich hoffe, es wird sich noch ändern. Wir müssen genügend globalen Druck aufbauen, um den USA klar zu machen, dass sie ihren Worten Taten folgen lassen müssen. Sie können nicht über das Pariser Abkommen reden oder über eine Halbierung der Emissionen, wenn sie zugleich der weltgrößte Produzent von Fracking und Fracking-Gas sind. Sie treiben das tatsächlich voran. Biden mag es in einigen Plänen einschränken wollen, aber an der amerikanischen Energiedominanzpolitik hat sich noch immer nichts geändert. Damit gibt es kein Pariser Abkommen. Vielleicht können wir also weltweit genügend Druck ausüben – und das müssen wir auch, wenn wir eine Änderung bewirken wollen.
Ende des Booms
Bereits 2019 hat die New York Times das Ende des Fracking-Booms verkündet. [21] Investitionskosten sind zu hoch, der Ölpreis zu niedrig, um die Profite zu generieren, die sich die Unternehmen erhofft hatten. Im vergangenen Jahr haben viele Fracking-Unternehmen Konkurs angemeldet. Was bedeutet das für die Klimagerechtigkeitsbewegungen?
Das bedeutet, dass Fracking gerade seine bisher schwerste Krise durchmacht, und das ist eine große Chance für die Klimagerechtigkeitsbewegung, einen wichtigen Sieg für unseren Planeten zu erringen. Jetzt, da Fracking sich an seinem schwächsten Punkt befindet, ist der Zeitpunkt, an dem wir zusammen kommen müssen und Fracking verboten werden muss, bevor es sich erholen und seine Ausbreitung auf der ganzen Welt wieder aufnehmen kann – wahrscheinlich nach einem größeren Konflikt, der einen enormen Sprung des Ölpreises verursachen könnte, wodurch die Technik profitabler würde und sich damit erholen könnte.
In einem anderen NYTimes-Artikel heißt es im Juli 2020, dass die Pleitewelle von Fracking-Unternehmen in den USA eine Umweltkatastrophe verursacht hat, weil sie unzählige Bohrlöcher hinterlassen hat, durch die – nach Beendigung der Bohrarbeiten – große Mengen des besonders gefährlichen Klimakillers Methan entweichen, also rohes Erdgas. [22]
Das ist mittlerweile ein so wichtiges Thema und eine solche Umweltbedrohung, dass es im vergangenen Jahr sogar Eingang in die politische Debatte in den USA gefunden hat. Es ist eine tickende Zeitbombe, wenn Unternehmen ihre Bohrungen aufgeben und die Bohrlöcher nicht ordnungsgemäß abdichten, um die hohen Kosten zu vermeiden. Nachdem sie Konkurs angemeldet haben, werden sie nicht mehr für die immensen Klimafolgen zur Verantwortung gezogen.
Hier zeigt sich das Ausmaß, das die Gier und die Verantwortungslosigkeit angenommen haben, in deren Hände die USA und unser Planet sind. Wir alle sind in den Händen der Wall Street, und Fracking ist eines der besten Beispiele dafür. In der aktuellen Situation kommt Profit vor Gesundheit und Leben, und das kann nicht mehr lange so weiter gehen.
Das “Dubai-Narrativ”
Leben in Mendoza nicht auch etliche Menschen, die vom Fracking profitieren – zumindest kurzfristig? Zum Beispiel, weil sie Jobs haben im Fracking-Business?
Nicht wirklich, nein. Denn reale Arbeitsplätze sind kaum entstanden durch das Fracking. Das ist vielmehr ein Teil der Lügen der Unternehmen. Sie behaupten, dass sie die Wirtschaft fördern und Arbeitsplätze schaffen, doch das entspricht nicht den Tatsachen, denn der größte Teil der Arbeit ist mechanisch und automatisiert. Es gibt zwar auch einige Arbeitsplätze für hochqualifizierte Ingenieure z. B., aber viele von ihnen sind nicht einmal aus Mendoza. Dieses Narrativ, dass Fracking Entwicklung und Wohlstand bringe, ist eine Farce, und es bricht tatsächlich gerade zusammen. Gerade heute, kurz bevor ich dich getroffen habe, habe ich etwas dazu retweetet:
Vaca Muerta besteht aus mehreren Provinzen. Südlich von Mendoza liegt die Provinz Neuquén. Sie ist das Herz von Vaca Muerta und wurde als Dubai präsentiert, als das neue Saudi Arabien, die reichste Provinz Argentiniens. Heute kann Neuquén nicht einmal die Gehälter der Beschäftigten im Gesundheitswesen bezahlen. Diese protestieren seit mehr als 50 Tagen, gemeinsam mit der Bevölkerung, sie bekommen massenhafte Unterstützung von allen. Es zeigt sich ganz einfach: Die Provinz ist bankrott. Sie ist das Herz des Fracking und hat nicht einmal genug Geld, um die die Gehälter der Beschäftigten im Gesundheitswesen zu bezahlen, die beinahe unter der Armutsgrenze liegen. Dieses Beispiel zeigt, dass das Narrativ der Gaskonzerne nichts als eine komplette Farce ist. [23]
Shell Must Fall
Die Konzerne haben mehr Macht als die Regierungen.
Ja, absolut.
Was können wir tun, um das zu verändern?
Shell must fall. Ich glaube, das ist eine Blaupause für einen Systemwandel.
Du glaubst also, wir brauchen einen grundlegenden Systemwandel?
Natürlich.
Wie können wir das erreichen?
Offensichtlich ist es nicht möglich, sich da einig zu werden. Alle reden über Antikapitalismus und Systemwandel, aber dann fällt es schwer, sich darauf zu einigen, wie das realisiert werden kann. Was mir an „Shell must fall“ gefällt, ist, dass es ein ganz konkreter Vorschlag ist: Wir müssen Shell zu Fall bringen. Shell ist einer der größten und übelsten Symbole dieses Systems, in dem wir leben – des Systems, das Shell erlaubt zu existieren und zu gedeihen, indem es den Rest der Welt ausbeutet, insbesondere den Globalen Süden. Wenn wir uns also zusammentun und Shell zu Fall bringen, dann können wir auch viele andere zu Fall bringen.
Es ist sozusagen eine umgekehrte Herangehensweise. Viele reden über Systemwandel und wollen eine politische Revolution, doch es ist schwierig, sich darüber zu verständigen wie das erreicht werden kann. Aber Shell – alle können sich darauf einigen, dass Shell fallen muss. So kommen wir alle zusammen: Extinction Rebellion, Ende Gelände, Fridays for Future, lokale Aktivist:innen, Linke, Glaubensgruppen, was auch immer. Wir demontieren Shell, dann Total, und all die anderen werden folgen. Wir können sie einen nach dem anderen zu Fall bringen, und in diesem Prozess werden die Menschen die Macht in ihre eigenen Hände nehmen, um den notwendigen Wandel zu vollziehen. Ich bin mir sicher, dass darauf ein politisches Gegenstück folgen wird, das einen Systemwandel ermöglicht.
Ich sehe „Shell must fall“ also als eine Blaupause für etwas viel größeres als Shell. Aus diesem Grund haben wir „Shale Must Fall“ ins Leben gerufen – eine globale Koalition. Der Name ist natürlich inspiriert von „Shell Must Fall“. Es ist ein Wortspiel, weil „Shell“ und „Shale“ ähnlich klingen, und mit „Shale“ meinen wir natürlich Fracking. Also haben wir diese globale Koalition gegen Gas und Fracking gebildet, die die Punkte der Lieferkette dieser Industrie zwischen dem Globalen Süden – der Gewinnungsseite – und dem konsumierenden Ende in Europa verbindet.
Die Haupt-Firmensitze der Unternehmen sind ja überwiegend hier in Europa angesiedelt – Total, BP, Repsol, Wintershall, Equinor in Norwegen, OMV in Österreich, Eni in Italien, Shell in den Niederlanden. Genau hier haben wir also die Ziele, und wir müssen nur die Energien bündeln. Ich freue mich wirklich sehr, dass Ende Gelände dieses Jahr eine große Aktion gegen Fracking-Gas machen wird und Extinction Rebellion heute und jeden Tag Nachrichten über Wintershall postet. Wir sind also alle bereit, wir alle arbeiten an derselben Sache, und der Globale Süden wird ganz oben auf die Agenda für Klimagerechtigkeit gesetzt. Deshalb haben wir mit dieser Koalition mobilisiert, und „Shell Must Fall“ ist natürlich auch ein Teil davon.
Und “Wintershall Must Fall” in Deutschland.
Ja, und auch in anderen Ländern wurden ähnliche Kampagnen begonnen - wie „Total Must Fall“ in Frankreich und Dänemark, „BP Must Fall“ und „Ineos Will Fall“.
Du scheinst recht optimistisch in die Zukunft zu blicken, oder?
Ich bin ebenso optimistisch wie ich es war, als ich diesen Bericht in Mendoza veröffentlicht habe. Ich bin davon überzeugt, dass wir gar keine andere Option haben. Das ist der Weg, das ist ein Weg, den wir gehen müssen. Meine Vision ist, dass wir beginnen können, eine vereinte, eine einheitliche Botschaft zu haben und dass es möglich ist, dass viele Klimagerechtigkeitsbewegungen zusammen kommen und mit vereinter Schlagkraft gegen dieses System kämpfen und gemeinsam gegen die Unternehmen, die am meisten Ausdruck dieses Systems sind, vorgehen.
Unsichtbare Geschichten
Die Gewalt gegen Umweltschützer:innen hat deutlich zugenommen. Die Zahl der ermordeten Umweltaktivist:innen hat sich in den vergangenen Jahren signifikant erhöht – vor allem in Ländern Südamerikas.
Ja, es geht mir wirklich darum, die Geschichte des Globalen Südens, wo politische Aktivist:innen extrem gefährlich leben, auf die Tagesordnung zu setzen. Denn diese Geschichte wird von den Medien und von den Regierungen unsichtbar gemacht. Mein Fall in Argentinien ist lächerlich im Vergleich zur Situation in Ländern wie Kolumbien oder den Philippinen, wo unsere Mitstreiter:innen sterben. In Kolumbien stirbt alle zwei Tage ein Mensch wegen politischem Aktivismus. Allein in diesem Jahr sind dort bis jetzt 51 Aktivist:innen ermordet worden.
Soweit ich weiß, auch überproportional viele gerade im Zusammenhang mit der Öl- und Gasindustrie.
Ja. Viele Klima-Aktivist:innen und auch soziale Aktivist:innen werden ermordet. Drei der Anti-Fracking-Aktivist:innen, die in Kolumbien gegen all die ausländischen Konzerne kämpfen, sind gerade in höchster Lebensgefahr. Sie müssen sich verstecken, auf eine von ihnen wurde vor zwei Monaten ein Mordanschlag verübt, von „sicarios“, von Auftragskillern.
Worin liegt die Verantwortung der privilegierten Umweltaktivist:innen, die in Europa leben?
Diese Geschichten sind unsichtbar. Sie sind aber nicht mehr unsichtbar, wenn wir gemeinsam mit Ende Gelände oder Extinction Rebellion arbeiten, denn diese Geschichten müssen in die europäischen Medien gebracht werden – gerade auch deshalb, weil sie die Folge der Aktivitäten von Unternehmen aus Europa sind. Die Klimabewegung ist so kampfbereit, und sie hat so viel Energie, deshalb denke ich, das ist eine großartige und wirkungsvolle Kombination.
Klima-Kolonialismus
Die Regierung hier in Deutschland hat ja beschlossen, dass unkonventionelles Fracking – wegen zu großer Umweltrisiken - in Deutschland nicht erlaubt wird. Zugleich maximiert eine deutsche Firma wie Wintershall ihren Profit, indem sie Fracking-Technologie nach Argentinien exportiert. Würdest du sagen, dass man das als eine Art zeitgenössischen Kolonialismus bezeichnen kann?
Ja. Ganz genau. Und nicht nur in Deutschland, denn das findet ja überall in Europa statt. All diese Unternehmen – Total, BP, Equinor … - sie können zuhause nicht fracken, weil es verboten ist, aber sie fracken im Globalen Süden. Dadurch erhält unser Kampf also eine zusätzliche moralische Ebene. Über welche Art von Pariser Abkommen redet ihr, wenn ihr in Vaca Muerta frackt? Allein in Vaca Muerta wird das Fracking 15 % des CO2-Budgets verbrauchen.
Eine ganz ähnliche Situation haben wir jetzt im Okavango-Delta in Botswana, wo auch gefrackt werden soll. Fast ein Sechstel des globalen CO2-Budgets wird dadurch verbraucht werden. In erster Linie betreibt das das kanadische Unternehmen Recon Africa, und deshalb findet dort gerade ein schwerer Kampf statt.
Wenn wir nur Okavango und Vaca Muerta nehmen, diese beiden Becken alleine werden ein Drittel des globalen CO2-Budgets verbrauchen, von dem du dich dann verabschieden kannst. Und all das ganz überwiegend von Unternehmen aus dem Globalen Norden, z. B. Europa. Wir haben also eine sehr konkrete Botschaft: Das ist eine Lüge.
Dem Globalen Süden zuhören
Würdest du sagen, dass es Bereiche gibt, in denen Aktivist:innen in Europa effizienter sein können als im Frontlinien-Kampf, wie z. B. in Botswana oder in Argentinien?
Das ist genau der Punkt. Die Frontlinien haben auch etwas sehr wichtiges, das Europa nicht hat. Ich sage also nicht, dass der Globale Norden der Retter des Globalen Südens sein muss, denn ich glaube, es ist genauso wahr, dass der Globale Süden den Globalen Norden retten kann. Ich habe nämlich das Gefühl, die Antworten für die Lösung der Klimakrise können wir nicht an den Orten finden, an denen die Klimakrise verursacht wurde. Und ich glaube auch, dass Europa so sehr daran gewöhnt ist, sich im Zentrum der Welt zu befinden und so viele Jahrhunderte lang die Quelle aller Ideologien zu sein – wie des Kapitalismus, des Kommunismus, der Renaissance … Europa war immer die Quelle von all dem. Deshalb habe ich den Eindruck, dass viele Aktivist:innen wirklich sehr stark damit beschäftigt sind, die perfekte Ideologie zu finden, die perfekte Theorie, die perfekte Formel. Doch hier liegt nicht die Antwort.
Wenn wir aber die Bereitschaft und das Mitgefühl haben, um damit zu beginnen, den Leidenden zuzuhören … - Es geht um Empathie, es geht darum, den Menschen im Globalen Süden die Hand zu reichen - den Menschen, die an den Frontlinien kämpfen. Auch hier in Europa gibt es natürlich Frontlinien, aber hier wirst du nicht umgebracht. Wenn hier RWE dein Haus abreißt, dann wirst du nicht ermordet, sondern du bekommst eine Entschädigung. Hier kannst du deine Hand an einer Wand festkleben und kommst damit in die nationalen Medien. Wenn du im Globalen Süden deine Hand irgendwo festklebst, werden sie sie abreißen. Sie werden dir die Haut abreißen, und alle werden über dich lachen, denn: Das macht man nicht. Sie werden dich umbringen.
Sowohl der Norden als auch der Süden haben etwas Wichtiges anzubieten. Der Globale Süden hat die Antworten. Wenn du Menschen im Globalen Süden fragst, wissen sie ganz genau, was zu tun ist. Sie werden sagen: Wir müssen diese Unternehmen aus Eurem Land stoppen und sie daran hindern, dass sie uns umbringen und unser Wasser und unser Land vergiften. Die meisten Menschen im Globalen Süden kämpfen nicht aus Ideologie, sondern sie kämpfen um ihr Überleben. Auch das gibt Dir eine höhere moralische Ebene. Ich möchte mal eine theoretische Situation konstruieren: Sagen wir, ein Unternehmen aus Deutschland zerstört in Guatemala das Land der Ureinwohner, und die Menschen in Guatemala arbeiten zusammen mit den Deutschen – aber auf Augenhöhe, das Mandat kommt von ihnen. So wie bei mir aus Argentinien.
Wir können eine Geschichte hören oder erzählen. Wir können die Rede von Llanquiray vom Mapuche-Kollektiv hören, von den Ureinwohner:innen, die den höchsten Preis für Fracking in Argentinien zahlen, weil ihr Land zerstört wird. Diese Rede war besonders kraftvoll. Llanquiray hat sie auf Deutsch gehalten, vor den deutschen Bewegungen, also überwiegend weißen Bewegungen. [24]
Ich glaube, das ist eine großartige Symbiose. Denn die Menschen an den Frontlinien sagen ganz direkt, worauf wir unsere Energie konzentrieren müssen. Wir können über 1,5 und „Tell the Truth“ und all diese Dinge reden. Viel kraftvoller ist es jedoch, wenn wir ein reales, konkretes Ziel haben. Wir können über das abstrakte Pariser Abkommen und das Klimagesetz reden, aber damit wird es sich nicht erfüllen. Wir müssen konkret werden. Wir müssen sagen: Ja, redet über das Pariser Abkommen, aber sorgt zuerst einmal dafür, dass Wintershall das Fracking in Argentinien beendet und der Import von Fracking-Gas aus Amerika beendet wird.
Zusammenkommen
Die Mapuche haben ja auch gegen Fracking in Argentinien gekämpft. Arbeitest du mit ihnen zusammen?
In Mendoza gibt es nicht viele Mapuche-Communities, weil sie von den Kolonialisten ausgerottet wurden. Der größte Widerstand der Mapuche hat im Süden stattgefunden, in der Provinz Neuquén und in Rio Negro. Deshalb haben wir mit ihnen Kontakt aufgenommen, gerade jetzt. Aber dieser Mapuche-Widerstand war viel früher, als ich noch gar nicht dort war, im Jahr 2012, als Fracking eingeführt wurde. Er war sehr stark, und er wurde ebenso stark unterdrückt und zum Schweigen gebracht. Im Laufe der Jahre gelang es der Regierung, den Kampfgeist vieler Menschen in Neuquén zu bezwingen. Aber das Mapuche-Kollektiv in Berlin beteiligt sich nun an diesem Kampf und nimmt Kontakt zu den Mapuche-Mitstreiter:innen in Argentinien auf.
Würdest du sagen, wir können diesen gemeinsamen Kampf von Nord und Süd als Zeichen der Hoffnung sehen?
Ja. Ich sehe sehr viel Hoffnung, dass wir gemeinsam – der Globale Süden zusammen mit dem Globalen Norden – an einem Tag globaler Aktionen zahlreiche Menschen mobilisieren können, so wie es uns mit der Koalition Shale Must Fall gelungen ist. Wir können tatsächlich genug Druck aufbauen, um wie eine Linse das Sonnenlicht auf einen Punkt zu fokussieren, an dem wir ihn verbrennen können – sei es Shell, sei es Wintershall. Darin liegt die Herausforderung. Alle Bewegungen haben Agenden, alle sind sehr beschäftigt – viele, viele Aktionen, viele, viele Aktionen, alle haben immer viele verschiedene Aktionen. Doch das ist genau die Art, wie wir nicht weiter kommen - denn jede Bewegung hat eine andere Agenda.
Wenn es aber möglich wäre, dass wir alle zusammenkommen, das könnte uns voranbringen. Wenn die Menschen im Globalen Süden zusammenkommen, kann das auch für den Globalen Norden sehr hilfreich sein. Denn der Globale Süden kann das Zusammenarbeiten der Bewegungen rechtfertigen, auch wenn sie unterschiedlich sind. Sagen wir, zwischen XR, EG und Fridays mag es Unterschiede geben, doch welche Bedeutung haben diese Unterschiede angesichts des Überlebenskampfes der Menschen im Globalen Süden gegen die Unternehmen des Globalen Nordens. Ich glaube, diese Art des Kampfes rechtfertigt, dass Ende Gelände mit XR und Fridays und all den anderen Bewegungen zusammenarbeitet. Vielleicht magst du deinen Nachbarn nicht, aber kommt wenigstens zusammen, denn es ist sehr wichtig, und Ihr seid Weggefährt:innen. Nach meiner Überzeugung ist das ein nächster Schritt, den wir im Kampf gegen die Klimakatastrophe gehen können. Damit können wir vielleicht nicht alle Probleme lösen, doch es ist dringend. Wir können die Klimakatastrophe aufhalten, und das müssen wir auch.
Die nächsten Projekte
Welche Projekte stehen als nächstes an? Was sind Deine Pläne für die kommenden Monate?
Für die kommenden Monate sind mehrere Vorhaben geplant, darunter eine große Aktion von Ende Gelände, bei der wir Ende Juli eine Baustelle für das UNG-Terminal blockieren werden - in Koordination mit Aktionen, die auf der ganzen Welt stattfinden für einen großen Aktionstag gegen Gas, Fracking und Kolonialismus auf der ganzen Welt. Dafür arbeiten wir gemeinsam mit der Koalition Shale Must Fall, die mehrere Bewegungen aus dem Globalen Süden und Norden zusammenbringt, einschließlich Gruppen von XR, FFF und zahlreichen anderen.
Diese Aktion wird nicht nur in Deutschland Tausende von Menschen aktivieren, sondern es ist wahrscheinlich, dass auch in Orten wie Mendoza in Argentinien, wo der Kampf gegen Fracking noch immer sehr stark ist, ähnlich viele Menschen mobilisiert werden. Diese Aktion hat also das Potenzial, weltweit ein Vorher und Nachher im Kampf gegen Gas und Fracking zu markieren und dieses Thema endlich in einige der Massenmedien zu bringen, vor allem in Europa.
Es finden auch verschiedene weitere Aktionen gegen Gas, Fracking und die großen multinationalen Öl- und Gaskonzerne statt - wie z. B. Aktionen gegen die Hauptversammlungen von Shell, Eni, BP und Equinor. Wir arbeiten auch an den Vorbereitungen für Aktionen bei der G7 im Juni und für spätere wie bei der COP, bei denen wir ebenfalls die Narrative des Globalen Südens mit einbeziehen werden und diesen gravierenden Fall von Kolonialismus, mit dem wir es zu tun haben.
Die Aussichten für den Kampf gegen Gas und Fracking sind sehr gut, denn das Thema Gas wird nun in einigen Ländern, wie hier in Deutschland, zu einer Priorität der Klimabewegungen.
Vielen Dank, Esteban, für Deine Zeit und für dieses Gespräch.
Gekürzte und aus dem Englischen übersetzte Fassung.
Das in Englisch geführte Interview fand am 29. April 2021 im Haus der Materialisierung in Berlin-Mitte statt.
Quellen und Anmerkungen:
Informationen zu Fracking:
[1] https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/bg-16-3033-2019.pdf
[2] https://link.springer.com/article/10.1007/s10584-011-0061-5
[3] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/ese3.35
[4] https://www.boell.de/sites/default/files/2013-10-schiefergas_1.pdf
[5] Mit „shale“ (= Schiefergestein) ist hier Fracking gemeint, bei dem Gas aus Schiefergestein (Tongestein) gewonnen wird.
[6] Esteban Servats Rede vor der Wintershall-Repräsentanz in Berlin-Mitte, am 11.12.2020 beim Launch der internationalen Solidaritätskampagne Shale Must Fall:
[9] https://newrepublic.com/article/162185/california-fracking-ban-newsom-methane-study?s=09
[10] “A key development since AR4 is the rapid deployment of hydraulic fracturing and horizontal-drilling technologies, which has increased and diversified the gas supply and allowed for a more extensive switching of power and heat production from coal to gas (IEA, 2012b); this is an important reason for a reduction of GHG emissions in the United States.”
https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2018/02/ipcc_wg3_ar5_chapter7.pdf
[11] https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/bg-16-3033-2019.pdf
[12] https://www.boell.de/en/2018/11/29/argentinas-paradox-g20
[13] zum Wasserverbrauch durch Fracking: https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/risiken-durch-fracking.pdf
[14] https://www.facebook.com/139276246741759/posts/152961708706546/
[15]
[16] https://www.facebook.com/groups/MendozaSinFracking
[17] https://www.instagram.com/tv/CMvM_xtp19i/?igshid=3sn1dar72jeq
[18] https://bg.copernicus.org/articles/16/3033/2019/bg-16-3033-2019.pdf
[19] https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2018/02/ipcc_wg3_ar5_chapter7.pdf
[20] Ex-US-Präsident Trump bei der 9. Annual Shale Insight Conference, Pittsburgh, PA, 23.10.2019:
https://www.youtube.com/watch?v=36YO_GFoHmM&t=2s
[21] https://www.nytimes.com/2019/12/11/business/energy-environment/natural-gas-shale-chevron.html
[22] https://www.nytimes.com/2020/07/12/climate/oil-fracking-bankruptcy-methane-executive-pay.html
[23] Das falsche Narrativ von Fracking: Die Provinz Neuquén in Argentinien, die als “künftiges Dubai” präsentiert wurde, kann nicht einmal die Gehälter der Beschäftigten im Gesundheitssystem bezahlen:
https://twitter.com/EstebanServat/status/1387738517695041537?s=09