Trauertag für ausgestorbene Arten

Geschrieben von Wolf Slatner am 30.11.2018

Heute ist Remembrance Day For Lost Species. Weltweit wird ausgestorbener Arten gedacht. In Singapur, Amsterdam, London, Detroit, Barcelona und auf Hawaii, in Schottland und Südafrika. Für Deutschland hab ich kein Event gefunden.

Ich sitze am Schreibtisch, und während ich meinen ersten Blog schreibe, schaue ich aus dem Fenster auf die Futterstellen und Vogelhäuschen, die ich heute morgen gefüllt habe. Seit ich im Sommer ein Video von Prof. Dr. Peter Berthold gesehen habe, füttere ich Vögel ganzjährig.

Eigentlich bin ich Vogelbanause. Amseln konnte ich erkennen und Elstern. Das war es auch schon. An den Amseln liebe ich schon lange ihren Gesang. Und wenn ich konnte, hab ich auch schon mal einen Vogel aus dem Rachen einer der unzähligen Katzen in unserer Siedlung gerettet. Was für einer es war, wusste ich aber nicht.

Nachdem ich im Oktober den UN-Klimabericht gelesen hatte, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte mich an die Umweltkrise wohl gewöhnt, wie an viele andere Krisen auch. Petitionen unterschrieben, gespendet und auch hier und da mal demonstriert, vor allem aber langfristige Projekte unterstützt zur Wiederaufforstung und zum Artenschutz. Unternehmungen, die für ihren Erfolg Zeit brauchen. Und diese Zeit war plötzlich weg. Zehn bis zwölf Jahre, die uns noch bleiben, um das Schlimmste zu verhindern, sind nicht viel für ein Aufforstungsprojekt. Die Aussicht, dass die Arbeit so vieler wundervoller Menschen umsonst sein könnte, traf mich fast unvorbereitet. Nachts lag ich wach, zwei, drei Stunden, in denen mein Verstand sich ein Horrorszenario nach dem anderen ausmalte. Über Wochen.

Die einzige Zeit, in der ich nicht drauf und dran war, durchzudrehen, war, wenn ich Gitarre spielte, technische Übungen, Arpeggios, Skalen.
Oder wenn ich die Vögel an den Futterstellen beobachtete. Es wurden täglich mehr.

Als erste kamen die Spatzen. Sie kommen zu vielen. Traut sich ein Mutiger an die Schälchen mit Sonnenblumenkernen, ziehen die anderen schnell nach. Offenbar ist der Schwarm ihr Schutz. Früher gab es in Deutschland etwa 15 Millionen Brutpaare. Inzwischen ist der Bestand des Haussperlings um 80% zurückgegangen. Zum Teil wegen gezielter Vergiftungsaktionen in den 70ern, seither vor allem aus Futtermangel. „Aufgeräumte“ Landschaften und Monokulturen dulden kein „Unkraut“ und keine Samen tragenden Wildkräuter. Vor 30 Jahren unvorstellbar, dass der Spatz vom Aussterben bedroht sein würde.

Die Amseln suchen wohl lieber ihr Futter am Boden, als sich mit den Spatzen an den Futterstellen zu arrangieren. Ich beobachte sie gerne. Oft sitzt ein Vogel auf einem Balken oder Vordach und überwacht das Grundstück, während der andere am Boden frisst. Ihr Bestand hat sich wohl stabilisiert, vor allem weil sich die Amsel an das Zusammenleben mit dem Menschen angepasst hat.

Seit kurzem tauchen Tauben auf. Wenn ich es richtig erkannt habe, sind es Türkentauben. Zu zweit oder dritt sind sie unterwegs. Hektisch picken sie Samen und Nüsse auf und verscheuchen sich gegenseitig von der Futterstelle. Seltsam, dass die Taube als Symbol geliebt wird, sonst aber verhasst ist. Ihren schlechten Ruf hat sie von den verwilderten Haustauben, die in unseren Städten leben. Wildtauben wie die Türkentaube sind in ihrem Bestand aber gefährdet. Jede 7. Vogelart ist inzwischen weltweit bedroht.

Auch eine Elster kommt hin und wieder. Dann halten sich die Spatzen zurück. Sie ist sehr schreckhaft. Und wenn ich mich nicht täusche, habe ich auch Kohlmeise, Feldsperling, Rotkehlchen und Kleiber ausfindig gemacht.

Stundenlang saß ich da und sah den Vögeln beim Fressen zu. Ihnen konnte ich in ihrer natürlichen Lebensspanne ein Überleben sichern, etwas, was ich meiner Tochter nicht mehr würde versprechen können. Noch nie hatte mich Ohnmacht so gelähmt.

Durch Zufall stieß ich auf die Rede von George Monbiot vom 31. Oktober in London. Und darüber auf Extinction Rebellion. Ich las mich durch die Website, und mir schien, als hätte jemand meine Gedanken kopiert und ins Netz gestellt. Ich war also doch nicht alleine. Es dauerte aber noch eine gute Weile, bis sich meine Starre etwas löste. Darauf war ich nämlich alleine nicht gekommen: dass Handeln da anfängt, wo Hoffnung aufhört. Nein, ich habe keine Hoffnung mehr in Politiker, die – sollten sie nicht bereit sein, die Zukunft auch ihrer eigenen Kinder zu verschleudern – ausgetauscht werden gegen welche, die es sind, keine in eine Ökonomie, für die Zukunft und Nachhaltigkeit nichts zählt, sondern nur das Quartalsergebnis, auch keine mehr in Petitionen und Spenden allein. Ich werde weiter Vögel füttern und weiter Regenwald aufforsten. Wir müssen Leben jetzt und hier unterstützen, es macht Sinn, der Natur zu helfen, sich zu regenerieren, und wir brauchen Modelle für die Zukunft. Aber diese Zukunft, dass es eine Zukunft überhaupt gibt, das müssen wir erstreiten. Sogar für die, die uns daran hindern wollen.

Feedback