The show must go on

Geschrieben von Xinti am 08.12.2021


Liebe Bewegte,


viele von euch fragen sich nach fast drei Jahren Aktivismus nach unserem Erfolg. Aber wie messen, wie beziffern wir Erfolg? Bewerten wir ihn anhand der Umsetzung unserer Forderungen und scheinbar naheliegender Ziele?

Kohlestopp 2030 und Nordstream 2 verhindern. Effektive Klimapolitik bewirken und somit Klimaneutralität 2025 erreichen. 1,5 Grad Pariser Abkommen einhalten. Kein Autobahnbau, keine Waldrodungen und keine Zerstörung von Dörfern mehr. Bindende Einberufung einer Bürger:innenversammlung. Peak des Anstiegs des CO2-Levels. Gut verfügbarer und kostengünstiger ÖPNV, sichere Fahrradwege für alle und endlich weniger Autos auf den Straßen. Echte Klimagerechtigkeit überall auf der Welt und oha, gar einen Systemwandel (aka Abschaffung des Kapitalismus).

Gemessen an all dem haben wir noch nicht viel erreicht. Es stellt sich also die Frage, woran wir unsere Wirksamkeit erkennen. Können und wollen wir sie nur an "harten" Zielen messen? Können und wollen wir sie Ende 2021 anhand der Umsetzung von Maßnahmen und dem Erreichen international vereinbarter Ziele einschätzen, die eigentlich von der Politik umgesetzt werden müssten? Mittlerweile von einer Ampel, deren Rot- und Gelbphasen deutlich längert sind als die Grünphase?

Psycholog:innen raten im Allgemeinen davon ab, die eigene Wirksamkeit (Selbstwirksamkeit) am Verhalten anderer Menschen zu messen. Natürlich wollen wir Ziele erreichen. Aber es liegt nicht in unserer Hand, was andere Menschen tun und wie schnell sie handeln. Es liegt nicht in unserer Hand, was die Politik umsetzt und was auf den COPs dieser Welt beschlossen wird. Wollen wir uns davon demotivieren lassen?!

Wir erleben seit der großen Wave im Oktober 2019 bei einigen das enttäuschte oder erschöpfte Abwenden von der Bewegung. Manche von uns ziehen sich zurück, sind müde von bewegungsinternen Diskussionen, haben in XR nicht sofort die "schöne neue Welt" gefunden. Andere starten neue, radikalere Projekte, die jedoch nicht auf Masse angelegt sind. Wiederum andere sind durch die Pandemie und die damit einhergehende Erschöpfung demobilisiert. Vielleicht sollten wir uns deshalb vor Augen führen, was wir schon geschafft haben.

Wir haben Straßen und Büros besetzt, Klimacamps aufgebaut, Demos organisiert, sind auf Bäume und Dächer von Institutionen und Denkmälern geklettert. Zuletzt sind sogar einige verzweifelt in den Hungerstreik getreten. Wir haben unsere Energie, Kreativität und unseren Mut eingesetzt, um zahlreiche Aktionsformen zu ersinnen, weiterzuentwickeln und in die Tat umzusetzen. Wir haben uns vernetzt, sind aus unseren Komfortzonen herausgekommen, haben Neues ausprobiert und sind in Aktion getreten. Und dies werden wird auch weiterhin tun müssen. Denn das ist es, was in unserer Hand liegt: Unsere Aktionen, unsere Strategie und unsere Beziehungen zueinander. Wirksam ist, dass wir aktiv geworden sind, dass wir etwas an unserem Verhalten verändert haben, dass wir über eigene Grenzen gegangen sind, dass wir etwas anders gemacht haben als sonst (z.B. in den zivilen Ungehorsam zu gehen). Wir sind aktiv geworden. Das ist das Allerwichtigste. Und zwar unabhängig vom Erreichen der oben genannten Ziele.

"Autonomie ist etwas, was nicht in unseren Häusern sitzt, auf unseren Feldern wächst
oder was wir in der Tasche haben. Autonomie tragen wir im Herzen und in unseren
Gedanken. Unser Widerstand ist für das Leben."

- Zapatistas

Trotzdem ist es wichtig nach fast drei Jahren Klimaaktivismus und zwei Jahren Pandemie innezuhalten und zu überlegen, wie wir nun weitermachen. Eines ist glasklar: Kern der XR-Strategie war es von Anbeginn, die Masse auf die Straße zu bringen. Und so wünschen sich viele von uns für 2022 wieder große, bunte, anschlussfähige und besser geplante Aktionen.


Was ist damit gemeint?

Die Realisierbarkeit und Außenwirkung einer Aktion müssen sorgfältig bedacht werden. Eine erfolgreiche Aktion ist eine, die zum einen klappt und zum anderen öffentlich Aufmerksamkeit erregt und medial verbreitet wird. Der Fokus muss weiterhin darauf liegen, Politik und Konzerne zu stören. Denn die großen Hebel für Veränderung sitzen im System, nicht bei einzelnen Individuen. Das Potenzial für Aktivismus in der Gesellschaft bleibt groß, jeden Monat finden neue Menschen in unsere Ortsgruppen. Wir müssen aber auch den noch nicht aktiven Menschen klar aufzeigen, warum das, was derzeit politisch umgesetzt wird, immer noch weit entfernt davon ist, auch nur annährend ausreichend zu sein. Wir müssen wieder mehr werden!


"In der Hoffnung, radikal verstanden, wird der Schritt vom Gestern ins Morgen getan,
heraus aus der Passivität."

- Georg Dietz


Bei allem Aktivismus ist es aber auch wichtig, dass wir auf uns und unsere Mitstreiter:innen schauen. Dass wir uns Pausen gönnen und reflektieren. Nicht nur um uns zu erholen, sondern auch, um unsere Verhaltensweisen, Strukturen und Aktionen zu überdenken. Wir müssen uns dabei auch kritisch fragen, wie wir untereinander umgehen möchten. Ob wir nicht manchmal zu unbedacht miteinander sprechen, zu vehement unsere persönlichen Meinungen vertreten und die anderer nicht hören wollen. Ob wir unseren bewegungsinternen Prozessen zu wenig vertrauen, ob bei Aktionsplanungen das große Ganze im Blick ist. Schließlich auch, ob wir uns bei zu vielen Aufgaben auf andere verlassen, statt selbst Verantwortung zu übernehmen. Kurzgesagt, können wir auf uns vertrauen?


"Es ist ein wichtiges Kriterium für Lebensqualität und individuelle Widerstandsfähigkeit, in Beziehungen zu stehen, die einen tragen."
- Maja Göpel

Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist groß und ausdifferenziert. Finde deinen Platz (es gibt auch mehrere) und sei solidarisch mit anderen Teilen der Bewegung und ihren Strategien. Denn um weiterhin erfolgreich zu sein, müssen wir "ein kollektives Netzwerk all unserer Teilkämpfe und Widerständigkeiten schaffen, welches Unterschiedlichkeiten respektiert und Ähnlichkeiten anerkennt“ (Zapatistas).

Mit unseren Aktionen (damit meine ich die Gesamtheit der Aktionen aller Teile der Klimagerechtigkeitsbewegung) haben wir in den letzten Jahren die gesellschaftliche Debatte kontinuierlich verschoben und die Politik vor uns hergetrieben. Das zeigt auch der neue Koalitionsvertrag. Und das werden wir auch weiterhin tun. Denn jedes Zehntel Grad und jede auf der Erde lebende Art zählt, aber nicht jeder Erfolg lässt sich (unmittelbar) messen. Unser Widerstand gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen benötigt die gemeinsame Weiterentwicklung von Strategien, mehr aktives Zuhören und Respekt untereinander, nachhaltige Vernetzungsarbeit und vor allem einen langen Atem. Die Klimakrise wird uns alle den Rest unseres Lebens begleiten. Die letzten drei Jahre waren erst der Anfang.


Wir müssen aktiv bleiben. The show must go on.
~ Xinti


"Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,
sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat,
egal wie es ausgeht."

- Václav Havel


Empfohlene Lektüre und Denkanstöße zur Strategie der Klimabewegung

1) Andreas Malm fragt sich: "Wann also eskalieren wir? Wann gelangen wir zu der Einsicht,
dass es an der Zeit ist, auch zu anderen Mittel zu greifen? Wann fangen wir an, die Dinge, die
unseren Planeten ruinieren, physisch anzugreifen, mit unseren Körpern, sie mit unseren
eigenen Händen zu zerstören?
"
In: Wie man eine Pipeline in die Luft jagt: Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen.
November 2020, Matthes und Seitz Berlin. ISBN 978-3751803052.

2) Payal Parekh und Carola Rackete meinen: "Unsere heimliche Supermacht ist die
Vergrößerung der Breite der Bewegung. Dazu müssen [wir] einen Rahmen verwenden, der
die Menschen dort abholt, wo sie sich befinden. [Wir] müssen versuchen, diese Menschen zu
engagieren und aus ihrer neutralen oder unpolitischen Position herauszuholen
."
In: Wie kann die Klimabewegung ihren Kampf eskalieren, um die Machtverhältnisse zu verändern? Oktober 2021.


3) Judith Pape schlägt vor, "dass die Klimabewegung ihre dezentrale Orga-Power und ihre
Blockadeskills nutzt, um transformativen Projekten mit ungehorsamem Biss zu mehr
Spielraum, Mitteln und Sichtbarkeit zu verhelfen
".
In: Warum nicht mal Transformationsblockierer blockieren? November 2021.

4) Klimakampf München schreibt: "Was es unserer Meinung nach braucht, ist Organisierung.
Tatsächliche, verbindliche Organisierung, um eine Gegenmacht zum herrschenden System
aufzubauen.
"
In: Thesen für eine Strategie in der Klimabewegung. Februar 2021.


5) Simo Dorn meint, "es gibt nichts, was [den Regierenden] so sehr schaden kann wie die
organisierte Arbeiterklasse
".
In: Welche Strategie für die Klimabewegung. Juli 2021.


6) Annemarie Botzki sagt: "Unsere 'theory of change' ist, dass wir eine kritische Masse in
der Gesellschaft erreichen müssen
." - Tadzio Müller meint: "Die Bezeichnung 'friedlich'
sollten wir auf Sabotage ausdehnen. Ziviler Ungehorsam ist ja schon friedlich
."
In: Streitgespräch zwischen Annemarie Botzki und Tadzio Müller: Radikalität der Klimabewegung. Juli 2021.


7) Georg Dietz meint: "In der eskalierenden Pandemie bedeutet das, einen Schritt
herauszuwagen aus der Problemlage, die sehr eng und drängend ist, und die Antworten
anderswo zu suchen, auch in dem, was gegenwärtig utopisch erscheint.
"

In: Pandemie und Klimawandel: Letztes Prinzip Hoffnung. November 2021.


8) Tino Pfaff schreibt: "Es ist damit zu rechnen, dass zukünftig mehr und mehr Menschen der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen entgegentreten werden."

In: Ziviler Ungehorsam und friedliche Sabotage. Dezember 2021.

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