Reflexionen zur Moral von XR

Geschrieben von Bernd Laserstein am 11.11.2020

Erster Teil

Sind XR‘ler:innen Gutmenschen? Ist Moral eine Herrschaftstechnik? Gibt es sie überhaupt, die eine XR-Moral? Sind wir nicht eine dezentrale Bewegung, die offen sein will für die unterschiedlichsten Personen? Moralisieren wir in unseren Plenen und stoßen andere ab?

In seinem Blog-Beitrag gibt Bernd eine Fülle von Anregungen für eine Debatte über die Moral und über die Werte von XR. In den Fokus rückt er damit zugleich unser 5. Prinzip. Wenn uns Reflexion und Lernen wichtig sind, dann: unbedingt lesen! Fortsetzung folgt

Foto: Mary Pahlke

XR rebelliert gegen das Aussterben. Und wenn das nicht gut und richtig ist, ja was denn dann? Wir wollen schließlich die Welt retten!

Dafür versammelt XR möglichst viele Menschen, die ebenfalls Gutes tun wollen und/oder sich schon länger darum bemühen. Darunter sind unter anderen Umweltaktivist:innen, Veteran:innen der Anti-Kernkraftbewegung, Autonome Kämpfer:innen, mehr oder weniger dogmatische Linke, Veganer:innen, Feminist:innen, Althippies, viele besorgte junge Menschen und auch so manche unbedarfte, aber nicht weniger besorgte Bürger:innen.

Die allermeisten der so versammelten wussten schon lange vor XR, was gut und richtig war, nämlich: Die Umwelt zu schützen, gegen Kernkraft zu kämpfen, gegen Herrschaft zu kämpfen, den Kapitalismus bekämpfen, keine tierischen Produkte zu verwenden, für die Gleichberechtigung der Geschlechter zu kämpfen, für die freie Liebe zu kämpfen oder für so etwas wie Anstand und Moral einzustehen. Und alle, alle sind davon überzeugt, dass sie Recht haben und auf der richtigen Seite der Guten stehen.

Woher kommt eigentlich die Moral?

Nach Friedrich Nietzsches fulminanter und spitzfindiger Analyse der Moral, bzw. der Moralbegründung(en) entstanden Ideen darüber, dass Moral durch und durch ein psycho-soziales Konstrukt sei und vorwiegend dem Machterhalt bzw. als Herrschaftstechnik diene. Damit wurde Moral verdächtig.

Auf der anderen Seite lässt sich feststellen, dass keine Sprache der Welt ohne die Worte 'gut' (richtig) und 'schlecht' (falsch) auskommt. Moralische Regeln finden sich in allen Kulturen der Erde, so dass hier doch eine anthropologische Konstante angenommen werden darf.

Der Psychologe und Evolutionsforscher Michael Tomasello hat die Theorie entwickelt, dass 'Moral' am Beginn der Menschwerdung steht, dass erst mit der Moral Kultur entstehen konnte.

Aus dieser Ur-Moral haben sich im Laufe der Zeit viele kulturspezifische, von der jeweiligen ökologischen Situation abhängende Moralen entwickelt, die sich alle irgendwie auf die Ur-Moral beziehen – insbesondere auf Mitgefühl und Respekt, Fairness, Loyalität und Gerechtigkeit. Daraus entstanden dann in der Folge höchst kreative Verknüpfungen mit sozialen Normen, und aus diesen heraus wird dann gerne moralisiert (womit wir wieder bei Nietzsche wären).

In der Gewaltfreien Kommunikation gilt Moralisieren als „Wolfssprache“ und damit als lebensfeindlich, also falsch.

Wie eindeutig ist Moral?

Amartya Sen verwendet ein anschauliches Beispiel für die Schwierigkeit, eine eindeutige, moralisch begründete Entscheidung zu treffen.

"Drei Kinder haben eine Flöte. Das eine ist als einziges in der Lage, auf der Flöte zu spielen. Das zweite hat die Flöte gemacht. Das dritte hat kein einziges Spielzeug."

Wer soll die Flöte bekommen?


Vielleicht hilft ein Blick auf einige Moralklassiker:


„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Immanuel Kant „Metaphysik der Sitten“


„Handle so, dass das größtmögliche Maß an Glück entsteht!“

Jeremy Bentham


"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."

Karl Marx „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“


„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“


Vier große Denker fragen sich, was die 'gute' bzw. die 'richtige' Handlung ist. Sie kommen entsprechend ihrer Zeiterfahrung und Situation zu verschiedenen Antwortvorschlägen.

Kant betont den Weg der individuellen Verantwortung im Rahmen einer Gemeinschaft vernunftbegabter Wesen (und einer transzendental gegebenen Vernunft).

Bentham betont den Weg des Nutzens für möglichst viele vor dem Hintergrund von individueller menschlicher Freiheit.

Marx betont den Weg der kollektiven Verantwortung im Rahmen der Industrialisierung und des kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Jonas betont den Weg der persönlichen Verantwortung im Rahmen einer globalen Gesellschaft und den physikalisch-ökologischen Grenzen der Weltgesellschaft.

Ich denke, dass alle diese Denker sehr klug gedacht haben. Aber können sie uns eine Antwort auf die vieldeutige Frage geben? Ich finde nicht - bin aber davon überzeugt, dass die Kinder selbst eine als richtig empfundene Lösung finden werden.

Moralische Entscheidungen sind in den seltensten Fällen eindeutig. Die Lebenswelt konfrontiert uns mit Widersprüchen, Paradoxien und Vieldeutigkeiten, und wir können die Konsequenzen unserer Entscheidungen niemals vollständig voraussehen.

Woher also nehmen wir dann eigentlich die Gewissheit, dass unser jeweiliger moralischer Maßstab der richtige und einzig mögliche ist? Und woher nehmen wir das Recht, andere für ihre Verstöße gegen unser persönliches Moralverständnis zu rügen?

Moralische Attituden von XR

"Gewaltlosigkeit bedeutet keineswegs Ablehnung jeglicher Konfrontation mit dem Bösen. Sie ist meiner Auffassung nach im Gegenteil eine Form eines sehr aktiven Kampfes - echter als der gewalttätige Gegenschlag, dessen Wesen im Grunde die Vermehrung der Boshaftigkeit ist." - Mahatma Gandhi, Ausgewählte Texte

Ein zentrales Prinzip von XR ist Gewaltfreiheit. Diese steht im Einklang mit allen mir bekannten Listen von Moralprinzipien. Auch die zehn Prinzipien stehen für moralische Grundsätze (auf die ich hier noch nicht näher eingehen mag). Gewaltfreiheit und das hehre Ziel der Weltrettung machen aus XR eine moralische, also eine gute Bewegung. Das heißt natürlich nicht, dass auch jede(r) Aktivist:in moralisch handelt.

Moral(isieren) im Außenverhältnis

Nach meinem derzeitigen Wissensstand möchte XR nicht definieren, was 'Gewalt' bedeuten soll, sondern macht das Verständnis von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit abhängig. Unglücklicherweise gibt es so etwas wie 'die Öffentlichkeit' nicht wirklich – im vielfältigen Gemisch von Passant:innen und Medienkonsument:innen wird sich schwerlich eine einheitliche Beurteilung finden lassen.

Aber es ist offensichtlich eine bewusste Strategie, in der Öffentlichkeit möglichst positiv erscheinen zu wollen, um mehr Menschen zu aktivieren. XR sucht die Außenwirkung und will sie für sich und die gute Sache nutzen.

Ganz in diesem Sinne gibt es ja auch das Prinzip Nr. 8 keine Beleidigungen und/oder Schuldzuweisungen. Meinem Eindruck nach hat das zu Beginn gut funktioniert. Aber inzwischen wird bereits fleißig moralisiert. „Ich will dich ja nicht beleidigen, aber SUV-Fahrer:innen find ich echt scheiße, ey!“

Es ist eine soziologische Gesetzmäßigkeit, dass Menschen in einer Gruppe eher nett zueinander sind und gegen solchen, die draußen stehen, Vorurteile entwickeln. Dazu kommt noch, dass ja schließlich irgendjemand schuld an dem Desaster sein muss – wahlweise und in wechselnden Kombinationen z.B. SUV-Fahrer:innen, Fleischesser:innen, Boomer:innen, weiße alte Männer, irgendwelche Firmen, Kapitalist:innen usw. usf.

Ich befürchte, dass diese Entwicklung eher negativ auf XR zurückfallen wird.

Moral(isieren) im Innenverhältnis

Auch in den Plenen und Arbeitsgruppen kommt es wohl vielerorts zu seltsamen Diskussionen. Die Selbstansprüche (zehn Prinzipien + x), die XR von seinen Aktivist:innen fordert, werden bei Verstoß mitunter heftig gerügt. Als würde es genügen, eine moralische Regel zu lesen, um sie sofort verinnerlicht zu haben.

Die Entwicklung einer moralischen Identität braucht Zeit, Diskussionen und Reflexion. Sie braucht dazu noch einen gemeinsamen Hintergrund von Alltagserfahrungen, der moralische Ansprüche überhaupt erst sinnvoll machen kann. – Ein Grashalm wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht.

Hinzu kommt noch, dass (auch wenn XR das vielleicht nicht wahrhaben mag) es in Gruppen immer zu einer informellen Hierarchie kommt. Es gibt sie, die Alpha-Wesen, zu denen die anderen Beta-, Gamma- usw. Wesen aufschauen. Nicht selten sind die Alphas mit weiteren moralischen Ansprüchen ausgestattet (siehe oben), die über das XR-Programm noch hinausgehen.

Das Ergebnis ist dann nicht selten „friendly fire“ und wahrscheinlich ein häufiger Grund dafür, dass viele Menschen einmal ins Plenum kommen und danach nie wieder.

Und nun?

XR ist immer noch eine junge Bewegung, und wie ich finde, eine wichtige Bewegung. Zum Glück steht Selbstreflexion im Programm – falls zwischen den Aktionen noch Zeit dafür bleibt. Ich denke, Reflexionen zur Moral von XR können einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass XR organisch wachsen kann. Ich würde dafür plädieren, 'Toleranz' zu üben und vielleicht sich an eine alte Tugend zu erinnern, die Güte.

Auch wenn ein großes Gefühl von Dringlichkeit verspürt wird, braucht es Zeit, um die Menschen mitzunehmen, und zwar so wie gerade sind – wir können uns keine anderen schnitzen!

Es genügt leider nicht, recht zu haben und sich zu den Guten zu zählen. Im Gegenteil, es kann dazu führen, sich gewalttätig moralisierend zu verhalten und damit die Menschen zu verletzen, deren Unterstützung man eigentlich wünscht.

Zum Begriff 'Toleranz' noch ein Verständnis, das ich sehr schätze. Es lautet:

„Toleranz heißt einzuräumen, dass man sich auch irren kann.“

Könnte dieses Verständnis eine hilfreiche Qualität für XRler*innen und XR besitzen?

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