Planetare Sterbehilfe

Geschrieben von Wolf Slatner am 01.12.2021

Der Planet liegt auf der Intensivstation. Extremwetter werden häufiger, Regenwälder weniger, CO2-Emissionen steigen weiter, Tier- und Pflanzenarten sterben in rasanter Geschwindigkeit aus. Schon jetzt sind in moderaten Klimazonen Temperaturen messbar, die sich mit menschlichem Leben kaum noch vereinbaren lassen. Bis 2050 wird erwartet, dass der Meeresspiegel um mehr als einen Meter steigt. Pole und Gletscher schmelzen. Bis zum Jahre 2100 sind mehr als zwei Meter Meeresspiegelanstieg äußerst wahrscheinlich. Gut, das betrifft erst einmal vor allem Bangladesch, Ägypten, Pakistan, die Malediven, Indonesien und Thailand. Wenn Sie nicht auf einer Hallig leben oder im norddeutschen Küstenstreifen, brauchen Sie also noch nicht allzu beunruhigt zu sein. Vom Kauf eines Ferienhauses in Holland würde ich Ihnen dennoch abraten.

Ein vollständiges Abschmelzen des Grönländischen Eisschildes würde den Meeresspiegel um über sieben Meter anheben. Das könnte allerdings noch hundert oder mehr Jahre dauern.

Und das eben ist der Punkt. Der Klimawandel ist schon spürbar, aber die Katastrophe vollzieht sich in einer Langatmigkeit, die unserem Zeitgefühl zuwiderläuft. Wir könnten zwar noch etwas daran ändern, aber glauben Sie ernsthaft noch irgendwelchen Beteuerungen von Politiker:innen? Oder gar an die freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft? Eben. Und wollen Sie sich vielleicht in irgendwelchen Baumhäusern um die Genüsse des Lebens bringen, während sich die Politiker:innen, die gerade Ihre Räumung angeordnet haben, im Audi A8 mit einem realen CO2-Ausstoß von 283g/km und damit einer fast dreifachen Überschreitung des EU-Flottengrenzwerts zu ihrem Lieblings-Steakhouse kutschieren lassen? Dachte ich mir, ich auch nicht.

Der Planet also siecht, während es einigen immer noch blendend geht. Die reichsten 10% der Menschheit sind für bis zu 45% des Treibhausgasausstoßes verantwortlich. Gehören Sie zu diesem erlauchten Kreis, dann macht es sicher Sinn, den Todeskampf der Erde ein wenig zu verlängern. Sind Sie dagegen eines der bedauernswerten Geschöpfe, die auf Gardi Sugdub vor der Küste Panamas oder Kiribati in der Südsee leben, dann ist es vermutlich eh schon zu spät. Was aber ist mit dem Rest?

Nun, der Rest darf der Erde beim Dahinvegetieren zuschauen. Und das ist nicht schön. Sie und ich, wir werden in den nächsten Jahren tagtäglich anderer Leute Schicksal mitanschauen müssen im vollen Bewusstsein dessen, dass es schleppend, aber stetig auch auf uns zukommt. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit gepflegten 190km/h auf der Autobahn, plötzlich sehen Sie vor sich eine Massenkarambolage. In den wenigen Sekunden, die Ihnen noch bleiben, werden Sie sich bewusst, dass bei dieser Wucht Sie auch der Airbag nicht retten wird. Und jetzt stellen Sie sich vor, dass diese Zeit bis zum Aufprall nicht wenige Sekunden, sondern vielleicht Jahrzehnte dauert. Das will ich nicht. Das wollen Sie nicht. Niemand will das.

Doch die Jugend von heute denkt selbstsüchtig nur an sich und ihre Zukunft. Für lebensverlängernde Maßnahmen bleiben junge Menschen freitags der Schule fern und gehen auf die Straße. Das ist doch egoistisch. Dabei müsste es der Jugend doch längst klar geworden sein, dass mit Menschen wie uns kein wirklicher Klimaschutz zu machen ist. Dafür leben wir einfach zu gern.

Die Lösung, die ich vorschlage, ist: Aktive Sterbehilfe. Das klingt erst einmal grausam. Ich höre schon die Einwände: Wir können doch die Natur nicht einfach versterben lassen.

Natur, Natur, ich weiß, das sagt sich so schön. Aber Natur sind nicht nur Zitronenfalter und Streuobstwiesen. Natur sind auch Stechmücken, Zecken und Blutegel. Haben unsere Naturfreunde daran schon mal gedacht?

Empathie ist ein anderes Totschlagargument. Empathie, Empathie! Wenn ich das schon höre! Als ob Leiden verlängern mitfühlend wäre! Wir dürfen uns hier keine falschen Sentimentalitäten erlauben. Das sind alles Denkverbote. Im Gegenteil zeugt die Einsicht, die irdische Sterbephase auf die kürzest mögliche Spanne zu beschränken, von moralischer Robustheit. So sieht es doch mal aus.

Was also können Sie tun?

Fahren Sie Auto, auch zum nächsten Briefkasten um die Ecke, und denken Sie beim nächsten Neuwagen doch mal drüber nach, ob es nicht auch ein SUV sein darf. Klar, wenn Sie zwischen zwei anderen SUVs einparken, kommen Sie nicht mehr aus der Fahrertür, aber das sollte ein vernachlässigbar kleiner Preis dafür sein, dass Sie aktiv dazu beitragen, die Leidenszeit des Planeten nicht zu verlängern.

Essen Sie Fleisch! Möglichst viel, möglichst billiges. Nur wenn der tropische Regenwald noch schneller für Soja-Viehfutter abgeholzt wird, verkürzen wir das Dahinscheiden der Welt. Außerdem reduzieren Sie damit Ihre eigene Lebenszeit und schlagen so zwei Fliegen mit einer Klappe.

Dann sage ich nur: Kiesgärten. Manchmal sind Lösungen so einfach! Nie wieder harken, und sind die lästigen Insekten erstmal weg, geht’s mit dem globalen Krepieren ganz schnell.

Und fliegen Sie unbedingt! Lange wird es das Grand Barrier Reef nicht mehr geben. Worauf also noch warten? Sie sollten aber den Flugverkehr nicht nur nach Australien in Betracht ziehen. Veränderung beginnt im Kleinen. Auch der Flug von Berlin nach Frankfurt hat seinen Wert. Sicher, Sie könnten bequem im Zug sitzen, lesen, Kaffee trinken und in weniger als vier Stunden wären Sie da. Dagegen dauert ein Flug zwar lässige 70 Minuten, aber Sie müssen zum Flughafen, einchecken, Gepäckkontrolle, warten, auschecken, dazwischen grässliche überteuerte Flughafen-Gastro, das hat also seine Schattenseiten, doch Ihre Opfer werden nicht umsonst sein.

Das sind alles ernst gemeinte Vorschläge, die ich Sie zu bedenken bitte. Ihr privater kleiner Beitrag ist durchaus wichtig. Gleichzeitig warne ich aber vor allzu großen Hoffnungen. Sie allein werden das planetare Sterben nicht vorantreiben. Es ist also entscheidend, dass Sie über Ihre kleine Welt hinausdenken. Denken Sie groß! Denken Sie global! Innerhalb seiner nationalen Grenzen kann Deutschland allein der Erde nicht den Gnadenstoß geben. Dafür braucht es umfangreichere Anstrengungen, doch die Mittel stehen bereits zur Verfügung.

Haben Sie schon mal an Aktien gedacht? Zinsen bekommen Sie doch sowieso keine, und warum Einlageentgelt bezahlen? RWE ist ein börsennotiertes Unternehmen, das in viel größerem Maße seinen Teil dazu beiträgt, weltweit Leid zu ersparen, als Sie und ich allein das je könnten. Mit Bayer machen Sie nichts falsch. Automobilkonzerne sind Horte der Barmherzigkeit. Ich könnte die Liste noch endlos weiterführen. Aber da vertraue ich ganz Ihrer Kreativität.

Wenn Sie nun nicht der risikofreudige Mensch sind, der Börsenjunkies sein Sauererspartes anvertraut, dann unterstützen Sie wenigstens Institutionen, die diese Scheu nicht haben. Von Kirchen, Universitäten bis zu Rentenfonds und Versicherungen haben so viele schon erkannt, dass Geld am besten da angelegt ist, wo es Gutes tut: in der Lebensverkürzung unseres Planeten.

Wechseln Sie wenigstens das Kreditinstitut! Und seien Sie dabei nicht halbherzig. Wenn Sie Ihr Guthaben von der Ökobank, dieser Herz-Lungen-Maschine des Komapatienten Erde, nehmen, dann seien Sie konsequent! Ohne Schleichwerbung betreiben zu wollen, kann ich Ihnen zum Beispiel die Deutsche Bank sehr ans Herz legen.

Ich sehe schon, Sie sind eher so der phlegmatische Typ. Das Proaktive ist Ihnen nicht so gegeben. Da haben Sie sich nichts vorzuwerfen, denn jetzt kommt die gute Nachricht: Es gibt nicht nur aktive Sterbehilfe, sondern auch passive. Und bei der letzteren müssen Sie nichts tun außer passiv zu bleiben. Ist das nicht wundervoll? Einfach alles ignorieren, Augen zu, auf Durchzug schalten. Alle vier Jahre irgendwas wählen, ganz egal, was, macht ohnehin keinen Unterschied. Ihr ganz normaler Lebensstil wirkt sich jetzt schon förderlich auf das beschleunigte Hopsgehen unserer Erde aus. Sie dürfen bleiben, wie Sie sind. Ändern Sie bloß nichts! Sie sind Teil der Lösung und können stolz auf sich sein, denn Sie behüten Ihre Mitmenschen vor der Illusion, sie könnten mit heiler Haut davonkommen, wenn sie nur etwas täten. Nein, tun Sie einfach nichts. Werden Sie Passivist:in! So simpel und doch so wirksam. Warum ein halbes Hähnchen reanimieren? Lassen Sie uns gemeinsam den Stecker ziehen! Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!

Vielen Dank, dass Sie bis zum Ende dabeigeblieben sind!

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