Fünf Dörfer wurden bereits komplett zerstört, nun stehen die Bagger direkt vor Lützerath. Der kleine Ort im rheinischen Kohlerevier zwischen Aachen und Düsseldorf liegt am Rand des Braunkohle-Tagebaus Garzweiler II und erinnert mittlerweile ein wenig an das allseits bekannte gallische Dorf aus Asterix und Obelix. Ein gewaltiger Krater öffnet sich hinter der Abbaukante in der flachen Landschaft.
Den Anfang des Protestes machten letztes Jahr eine Handvoll Menschen mit einem Pavillon, der „Mahnwache Lützerath“. Seitdem ist einiges passiert: Aktuell leben auf dem Grundstück des Landwirts Eckardt Heukamp hunderte Aktivist:innen, die sich der anstehenden Räumung in den Weg stellen. Sich ihr in den Weg leben. Das Grundstück ist ein buntes Sammelsurium aus miteinander verbundenen Baumhäusern, einem großen Zirkuszelt als Versammlungsort und ganz vielen Akteur:innen, die diesen Ort als kollektiven Lern- und Begegnungsraum völlig neu erschaffen, nur 200 Meter entfernt von dem Ort der Zerstörung, die täglich über sie hereinbrechen könnte.
Lützerath ist die im Moment vielleicht am stärksten umkämpfte Grenze, denn hier geht es um so viel mehr als nur einen Ort. Wenn Deutschland seinen Beitrag dazu leisten will, dass die globale Erderwärmung nicht über 1,5 Grad steigt, dann darf Lützerath auf keinen Fall abgebaggert werden. Das hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ausgerechnet. In den Böden rund um Lützerath befinden sich rund 650 Millionen Tonnen Braunkohle. Derzeit fördert kein anderes Land mehr Braunkohle als Deutschland – das soll sich auch die nächsten 12 Jahre nicht ändern. Während bereits vielerorts der Klimanotstand ausgerufen wurde, so unter anderem auch vom Europäischen Parlament im Jahr 2019, um die Erhitzung der Erde auf 1,5 Grad gegenüber vorindustriellen Zeiten zu begrenzen, werden auch hier die Profitinteressen über die Bedürfnisse der Menschen gestellt.
Rechtliche Situation
In Lützerath lebten einst circa 70 Menschen. Bis auf den Landwirt Eckardt Heukamp konnte das Energieunternehmen RWE alle alteingesessenen Bewohner:innen vertreiben. Der Konzern zahlt den dort Wohnenden eine Entschädigung und siedelt sie um. Wird das Angebot nicht angenommen, enteignet RWE die Menschen auf juristischem Wege. RWE argumentiert dabei mit dem “Gemeinwohl”, da der gewonnene Strom ja allen zugute kommt. Doch Eckardt Heukamp lässt sich nicht von RWE vertreiben und nutzt alle juristischen Möglichkeiten, um eine Enteignung zu verhindern.
Das Eigentumsrecht ist in Deutschland ein gut geschütztes Recht. Eine Enteignung lässt sich nicht einfach durchführen. Eckardt Heukamp ist gegen die Enteignung juristisch vorgegangen und befindet sich in einem bereits Jahre andauernden Rechtsstreit mit RWE. Weil das RWE zu lange dauert, hat der Konzern die “vorzeitige Besitzeinweisung mit sofortigem Vollzug” zum 01.11.2021 beantragt. Damit wäre RWE ab November zwar noch nicht Eigentümer des Grundstücks, aber Besitzer. Als Besitzer könnte RWE den Rest Lützeraths zerstören. Eckardt Heukamp hat Einspruch eingelegt, welchen das Verwaltungsgericht Aachen abgelehnt hat. Das Verwaltungsgericht Aachen hat in der Vergangenheit immer für RWE entschieden. Daraufhin legte Eckardt Heukamp Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Münster ein. Eine Entscheidung steht noch aus. RWE teilte daraufhin dem Gericht mit, mit dem Abriss auf das Ergebnis des Urteils (bis spätestens 07.01.2022) zu warten.
Obwohl es aktuell ruhig in Lützerath ist, kann die Räumung jederzeit beginnen. Dazu kommt: Es gibt es noch andere Häuser und Bäume, die RWE gehören und jederzeit zerstört werden können.
Durch den Rechtsstreit mit RWE haben sich für Eckardt Heukamp Kosten in Höhe von 90.000 Euro aufgetürmt. Schaut euch das Mobi-Video an und unterstützt ihn gerne, wenn ihr ein paar Euro entbehren könnt.
Leben vor Ort
Eckardt Heukamp ist jedoch nicht allein: Einige Aktivist:innen haben in Lützerath mittlerweile eine WG gegründet und wohnen nun ganz offiziell gemeldet dort. Hier nun ein kleiner Einblick von kmille, der selbst immer wieder in Lützerath lebt:
Der Ort ist nun ein anarchistisches, weitgehend selbstverwaltetes Projekt. In Lützerath findet man weder ÖPNV noch Einkaufsmöglichkeiten. Daher gibt es viele wichtige Strukturen, die sich um die Grundbedürfnisse der Bewohner:innen kümmern. Hierarchien sollen dabei weitestgehend vermieden werden, Entscheidungen werden basisdemokratisch im Konsensprinzip getroffen. Alle können und sollen sich einbringen. Die eigentliche Arbeit findet in Arbeitsgruppen (AGs) statt, das tägliche Plenum dient dem Austausch für das gesamte Camp. Ankündigungen, Diskussionen und Entscheidungen finden hier ihren Platz. Fester Bestandteil im Plenum ist auch ein „antira(ssistischer) Input“, bei dem Texte vorgelesen/abgespielt und reflektiert werden.
Alle Menschen sind herzlich willkommen. Ohne Leistungsdruck und gesellschaftliche Zwänge wird hier an einer Utopie gearbeitet: Keine:r ist verpflichtet, irgendetwas tun. Alle können sich einbringen, wo sie wollen, alle reflektieren und arbeiten aktiv gegen Diskriminierungsformen, die fest in unserer Gesellschaft verwurzelt sind (Rassismus, Sexismus, Macho-Verhalten, Ableismus, Klassismus, Transfeindlichkeit und der ganze andere Scheiß).
Die Aufrechterhaltung des Camps ist mit viel Arbeit verbunden. Von der Besetzung des Info-Points, dem Rundgang für Neuankömmlinge, der Toilettenreinigung bis zur Essens-Vorbereitung und -Ausgabe sind täglich viele Schichten zu vergeben.
Dazu kommt die Vorbereitung auf die Räumung. Es gibt rund um die Uhr an verschiedenen Stellen Lützeraths Wachposten, um Bauzaun-Lieferungen und Bagger-Transporte frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Es werden Barrikaden, Baumhäuser, Traversen (Seile zwischen Baumhäusern) und Holzhütten gebaut, um die anstehende Räumung zu erschweren. Aktuell bereiten wir uns auf einen langen Winter vor. Infrastrukturen werden winddicht und warm gemacht. Gegen die Kälte hilft heißer Tee, den es fast rund um die Uhr gibt. Abends schauen wir Filme im Zirkuszelt, machen Gitarren-Musik am Lagerfeuer, und für die anstehende Nacht verteilen wir genügend Wärmflaschen.
Lützerath gibt den dort Lebenden einiges zurück: Eine tolle Gemeinschaft mit wunderbaren Menschen, Weiterbildung und Austausch, leckeres Essen von der Küfa (Küche für alle), ein politisches Projekt mit Aussicht auf Erfolg und vor allem: Jeder Tag in Lützerath ist einzigartig und hält unvorhersehbare Überraschungen bereit.
Schaut vorbei! Es lohnt sich. Niemand weiß, wie lange dieser Ort noch existiert. Infos zur Anreise gibt es hier auf der Webseite.
Lützerath selbst ist nicht mehr mit dem ÖPNV zu erreichen. Es gibt die Möglichkeit, mit dem Auto geshuttelt zu werden (siehe dazu die Telegram-Gruppe).
Lützerath bleibt.
Für einen Eindruck vom Camp: