Konkurrenz belebt das Geschäft

Geschrieben von Wolf Slatner am 28.06.2022

Als erstes kommt morgens die ältere Dame, die für die wenigen Briefe, die sie einwirft, keine Tasche braucht. Sie trägt die Post für Arriva aus. Meistens Behördliches. Der Postbote ist selten vor halb zwei an meiner Haustür. Möglicherweise liefert vorher noch jemand anderes ein Paket von DHL aus. Wenn ich am Vormittag zum Bahnhof laufe, begegnen mir in meiner Siedlung auch Zusteller, seltener Zustellerinnen von GLS und Hermes, ab und an auch von DPD, UPS oder FedEx, und immer öfter von Amazon.

3,72 Milliarden Sendungen von Paketdiensten setzen im Jahr in Deutschland 13,9 Milliarden Euro um. 547.300 Menschen sind dort beschäftigt. Nimmt man Kurier- und Expressdienste hinzu, erhöht sich der Umsatz auf 23,5 Milliarden Euro. (1)

Ich erinnere mich an ‚meinen‘ Briefträger Anfang der 90er Jahre in einem kleinen Dorf in Nordhessen. Er war ein gemütlicher Herr mit Schnauzer, den ich nie gestresst erlebt habe. Beim Getränkehandel, der Metzgerei, den verschiedenen Höfen und an der Tankstelle hielt er ebenso wie an jedem Gartenzaun kurze Schwätzchen und verbreitete als Flüsterpostbote die Dorfneuigkeiten bis zu unserem Haus, das das vorletzte auf seiner Route war. Diese Zeiten sind vorbei.

Bis Ende der 80er Jahre lagen in der Bundesrepublik Brief- und Paketdienst, Fernmeldewesen und Postbank in den Händen der deutschen Bundespost. Diese Bereiche wurden Anfang der 90er Jahre nach und nach privatisiert und in die Aktiengesellschaften Deutsche Post AG, Deutsche Telekom AG und Deutsche Postbank AG übergeleitet. Im Paketliefersektor dominiert die DHL, genauer die Deutsche Post DHL Group, mit etwa 50% Marktanteil. Zusammen mit ihren fünf größten Konkurrenten deckt sie 93% des Marktes ab.

Konkurrenz leitet sich vom lateinischen Verb concurrere ab, das dreierlei Bedeutung hat. Es kann sehr wörtlich zusammenlaufen, zusammenströmen, von allen Seiten herbeieilen heißen. Übertragen kann es auch seine Zuflucht nehmen bedeuten. Schließlich hat es auch noch eine dritte Konnotation, und zwar eine feindselige: zusammenstoßen, aneinandergeraten, anstürmen, angreifen.

Der Angriff der Paketdienstunternehmen auf die Marktanteile geht zulasten ihrer Beschäftigten. Immer weniger von ihnen sind festangestellt und tariflich abgesichert. Entweder sind sie bei einem Subunternehmen beschäftigt oder gelten als eigenbeschäftigt beziehungsweise scheinselbständig. Das heißt, die Beschäftigungsverhältnisse sind prekär. 12– oder 16-Stunden Arbeitstage sind keine Seltenheit. Der Verdienst liegt im Durchschnitt um 1.000 Euro niedriger als das Durchschnittsgehalt aller Beschäftigten in Deutschland. (2)

Unternehmen konkurrieren in der Marktwirtschaft vor allem über den Preis, der gegenseitig unterboten wird. Kosten lassen sich am ehesten bei den Beschäftigten reduzieren. Mindestlöhne werden unterschritten und Lohnnebenkosten umgangen, indem Aufgaben an Subunternehmen aus Osteuropa delegiert werden. (3)

Sparen lässt sich auch am Arbeitsschutz. Selbst für schwere Pakete (bis zu 70kg) steht oft keine Sackkarre zur Verfügung. Der Zeitdruck nimmt zu. Und mit ihm die physische und psychische Belastung der Zusteller:innen. Die Zahl der auszuliefernden Pakete (bis zu 300 Stück) pro Tag steigt immer mehr. (4)

„Die Lohnarbeit“, schrieben zwei berühmte Deutsche vor 174 Jahren, „beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich.“ Das Resultat für die Beschäftigten ist „die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung“. (5)

Und nicht nur die der beschäftigten Menschen. Laut IPCC betrug der Anteil des Transportwesens an den globalen Emissionen im Jahr 2019 15 Prozent. Die Zahl dürfte, allein schon der Pandemie wegen, inzwischen deutlich gestiegen sein und langfristig aufgrund neuer Konsumgewohnheiten weiter steigen.

Wie, fragt tagesschau.de, kann die Branche nachhaltiger werden? Denn nachhaltig will ja heute ein jeder sein. Für die „letzte Meile“ sollen es Lastenräder und Elektrotransporter richten. Dafür braucht es „Mikrodepots“ wie Anhänger oder Container, in denen Pakete zwischengelagert werden können. Da für den Großteil der Emissionen aber die Langstrecke verantwortlich ist, richtet sich die Hoffnung auf Elektro- und Wasserstoff-LKW. Nur 6 Prozent der Pakete werden bei der Deutschen Post über die Schiene transportiert. Um diesen Anteil zu steigern, brauche es schnellere Waggons, einen Ausbau der Infrastruktur, neue und bessere Trassen und Verladeterminals. (6)

Kurz: Es braucht Produktion und Wachstum. Niemand stellt dagegen den Wahnsinn in Frage, dass, wo früher ein Transporter fuhr, heute die gleichen Strecken sechs, sieben oder acht Fahrzeuge fahren, die immer größere Gebiete abdecken müssen. Täglich. Überall.

Wir können uns Konkurrenz nicht mehr leisten. Ökologisch nicht. Sozial nicht.

Zwischen den Jahren 2000 und 2010 sanken die Realeinkommen in Deutschland im Durchschnitt um 4,2 Prozent, im unteren Lohnbereich sogar um bis zu 23,1 Prozent. Noch vor zwanzig Jahren waren in Deutschland knapp zwei Drittel der Beschäftigten in einem Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht. Heute sind es nur noch 38%. (7)

Konkurrenz wird gerne auch Wettbewerb genannt. Das kennt man aus dem Sport. Es gibt Gewinner. Es gibt Verlierer. Und es wird uns Fairplay suggeriert, das es – siehe nur die WM in Katar – im kommerziellen Sport ebenso wenig gibt wie in der restlichen freien Wirtschaft. Konkurrenz führt zu Ausbeutung. Ausbeutung von Mensch und Natur.

Konkurrenz heißt auch, dass mehr Waren produziert und mehr Dienste angeboten als benötigt werden. Die Überproduktion ist unausweichlich. Der Markt ist ja die Arena, in der die Sieger gekürt werden. Erst im Überangebot entscheidet sich, wer sich durchsetzt und wer untergeht.

Stefan Müller
Stefan Müller

In der Atacama-Wüste in Chile türmen sich Berge an entsorgter Kleidung. 59.000 Tonnen unverkaufter Textilien landen Jahr für Jahr im Hafen von Iquique. Was nicht weiterverkauft wird, in Santiago de Chile oder anderswo, landet in der Wüste. (8)

Als Fast Fashion wird das Geschäftsmodell bezeichnet, Klamotten möglichst schnell und möglichst billig zu produzieren, weil wir ihrer schnell überdrüssig werden. Bei Zara oder H&M dauert der Prozess vom Entwurf bis zum Verkauf nur fünf bis sechs Wochen. Bei anderen geht es noch schneller.

Auch hier erstreckt sich die Ausbeutung auf Mensch und Natur. Die Textilien sind so giftig wie Plastik oder Reifen. Sie enthalten durch Färben, Bleichen oder Bedrucken zahlreiche Schadstoffe. Polyester braucht bis zu 200 Jahre, um sich abzubauen. Ein Glück für uns, dass wir unsere Kleidung nur noch halb so lange tragen wie vor 15 Jahren. (9)

Hergestellt werden die Junk Clothes in Niedriglohnländern in Afrika und Asien, aber auch in Europa. Beschäftigungsformen sind prekär, Löhne niedrigst, die Arbeitsbedingungen schlecht. Beschäftigte sind giftigen Chemikalien und hohem Geräuschpegel ausgesetzt, Arbeitstage dauern 12 bis 14 Stunden, mancherorts sind selbst Pausen, um auf die Toilette zu gehen, verboten. Wenn die Beschäftigten es wagen sollten, für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen zu kämpfen, zieht die Gewinnkarawane weiter ins nächste Billiglohnland. (10)

Um es zusammenzufassen: Damit unsere Kleiderschränke möglichst prall gefüllt sind, lassen wir Menschen in Afrika und Asien sich und ihre Umwelt vergiften und für einen Hungerlohn zu Tode schuften, und was uns nicht gefällt, landet anschließend in Südamerika und vergiftet dort Boden und Luft.

Die Ausbeutung der Natur und die Ausbeutung des Menschen gehen Hand in Hand.

Wer wie ich schon ein Weilchen auf diesem Planeten ist, für den war es einmal völlig selbstverständlich, dass Kliniken in kommunaler Hand waren. Krankenhäuser waren eine gesundheitspolitische Maßnahme, kein Platz der Profiterzielung. Inzwischen sind Kliniken privatisiert. Die sie betreiben, präsentieren stolz ihre exquisiten Gemäldesammlungen. Das Pflegepersonal - auf das allernotwendigste zusammengeschrumpft - macht heute die dreifache Arbeit, während der Realwert seines Lohns geschrumpft ist.

Mehr als 50.000 Stellen sind im Krankenhausbereich in den letzten 15 Jahren gestrichen worden, denn spätestens mit Einführung der sogenannten Fallpauschalen, d. h. der fixen Vergütung jeder diagnostizierbaren Krankheit, muss, wer Gewinne machen will, Personal-, Sach- und Organisationskosten senken. Und Gewinne müssen am Patienten, an der Patientin generiert werden in einem Gesundheitssystem, das vollständig kommerzialisiert worden ist.

„Der Patient als Mittel, um Erlöse zu optimieren“ lässt sich anschaulich betrachten in dem Film „Der marktgerechte Patient“. (11)

Quelle: Gemeingut in BürgerInnenhand/Zeichnerin: Katharina Greve
Quelle: Gemeingut in BürgerInnenhand/Zeichnerin: Katharina Greve

Die Gier nach Profit hört beim Krankenhaus nicht auf. Inzwischen übernehmen mehr und mehr Investoren unter anderen radiologische, gynäkologische, internistische oder auch allgemeinmedizinische Arztpraxen. Eine Studie hat bereits ergeben, dass Praxen im Besitz von Finanzinvestoren systematisch höhere Preise für die Behandlung von Patient:innen abrechnen und dass viele Patient:innen Behandlungen bekommen, die nicht nötig gewesen wären. Gewinne werden privatisiert. Die Kosten trägt die Allgemeinheit. (12)

In Deutschland ist der Gesundheitssektor für 5,2 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verantwortlich. Der Exportanteil durch z. B. Medizintechnik ist dabei noch nicht eingerechnet. Das Gesundheitswesen hat auch international einen hohen Anteil an den CO2-Emissionen: Wäre es ein Land, wäre es fünftgrößter Emittent von Klimagasen. (13)

Klima und Artenschutz haben aber ebenso wenig Warenwert, taugen also in einer Wettbewerbswirtschaft ebenso wenig zur Profitgenerierung wie Gesundheit. Mit Krankheit lässt sich Geld machen. Und mit Ausbeutung. Solange Kliniken und Arztpraxen dem Wohl der Aktionäre und Aktionärinnen dienen, besteht wenig Hoffnung, dass sie das Wohl der Patientin und des Patienten mehr als unbedingt nötig berücksichtigen, vom Wohl der Beschäftigten und der Umwelt ganz zu schweigen.

„Unter Freiheit“, meinten die beiden deutschen Philosophen vor 174 Jahren, verstehe man in unserer Wettbewerbswirtschaft „den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf“. (14) Weite Teile des politischen Spektrums, von den freien über die grünen, die sozialen und die konservativen bis zu den rechtsradikalen Liberalen, verteidigen diese ‘Freiheit’ bis zum Letzten. Eingebunden sind wir in dieses Geflecht mehr oder weniger alle.

Amazon verschickt in Deutschland jährlich rund 849 Millionen Pakete. Mehr als die Hälfte der Deutschen kauft bei Amazon ein. Auch ein Grund für die Expansion der Paketdienstbranche, in die Amazon vermehrt selbst einsteigt. Wenn man sich das Geschäftsgebaren des Unternehmens anschaut, besteht wenig Grund, anzunehmen, dass sich das vorteilhaft auf die Beschäftigten auswirken wird. Im Gegenteil: Prekär Beschäftigte aus Osteuropa können sich keine Wohnung und keine Miete leisten, hausen in Wohncontainern zu dritt oder viert in einem Zimmer von zehn Quadratmetern. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird verweigert. Tönnies lässt grüßen! (15)

43 Millionen der Amazon-Bestellungen werden wieder zurückgesendet. Es reicht schon, dass mich das Schleifgeräusch beim Starten der DVD-Wiedergabe stört, schon geht die Ware retour. Greenpeace hat dokumentiert, wie das Unternehmen nicht verkaufte intakte Ware zur Vernichtung aussortiert. (16)

Da Konkurrenz, Überproduktion und Ausbeutung sich bedingen, ist es falsch, die ökologische von der sozialen Frage zu trennen. Wir sollten es nicht mehr zulassen, dass beide Themen gegeneinander ausgespielt werden, sondern stattdessen beides zusammendenken. Dem Profitinteresse ist es egal, ob die Ressourcen, die ausgebeutet werden, natürliche oder menschliche sind. Da macht es keinen Unterschied.

Wir werden die ökologische Frage nicht ohne die soziale lösen können. Studien zufolge sind nur 100 multinationale Konzerne für 71% der globalen Emissionen verantwortlich. Die Initiative Debt For Climate! verbindet die Klimakrise mit der Ausbeutung des globalen Südens und fordert einen Schuldenerlass für verarmte Länder, die am meisten von der Klimakatastrophe betroffen sind, aber am wenigsten zu ihr beigetragen haben. (17)

Es wird auch Zeit, die Eigentumsfrage zu stellen. Der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ ist es zu verdanken, dass die Vergesellschaftung von Konzernen wieder ein politisches Thema geworden ist. (18)

Bis jetzt gab es in der Bundesrepublik Enteignungen immer dann, wenn Privatbesitz den Profitinteressen der Konzerne im Wege stand. Da werden dann schnell mal Bauer und Bäuerin enteignet, sei es für Rennstrecken von Mercedes-Benz oder damit RWE nach Kohle baggern kann. Hat wer jemals von der Enteignung eines Konzerns gehört, der die Interessen der Allgemeinheit mit Füßen tritt?

Kliniken gehören in kommunale Hand (19), Energie in Bürgerhand (20), für Bildung sollte die Gesellschaft, für das Transportwesen der Staat zuständig sein. Kurz: Gemeingut in BürgerInnenhand, wie der gleichnamige Verein seit 2010 bundesweit fordert. (21)

Und wo wir Konkurrenz nicht aufheben können, sollte sie zumindest so beschränkt werden, dass sie den kleinstmöglichen Schaden an Mensch und Umwelt anrichtet.

Was spricht dagegen, dass der Briefträger und die Postbotin in Zukunft wieder Zeit haben, ein paar Minuten an der Haustüre zu plaudern, weil sie sich nicht mehr in Konkurrenz mit externen und internen Kolleg:innen kaputtrackern müssen?

Für mich nichts.

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