Jutta Ditfurth hat ihre Meinung geändert

Geschrieben von Judith Pape am 16.11.2019


Vor einem halben Jahr kam Jutta Ditfurth zum Polittalk nach Freiburg. In ihrem Vortrag zur politischen Navigation in der Klimakrise sprach sie darüber, dass viele klimapolitische Maßnahmen an der Ursache der Problematik vorbeigehen, weil sie die emissionsintensiven Produktionszweige der Industrie effektiv unangetastet lassen:

CO2-Steuer heißt einfach nur: ‘ne unsoziale Geschichte - wälzt sich runter auf die Armen.[…] Und die großen Konzerne – selbstverständlich müssen die niemals so hohe CO2-Steuern bezahlen, dass ihnen das so wehtun wird, dass sie zu Produktionsumstellungen gezwungen werden. Und die einzige Chance ist […], dass du rangehst an die Produktionsbereiche: Metall, Chemie, Agrarindustrie, Nahrungsmittelproduktion, Verkehrsorganisation; dass du da ran gehst, wo die Ursachen gemacht werden“ (Jutta Ditfurth am 30.5.19).

Damit vertritt sie keine linksradikale Position, sondern gibt schlicht wieder, was wissenschaftlich unumstritten ist und auch im 2018 erschienenen Spezialreport des Weltklimarats zum 1,5°C-Ziel ähnlich klar benannt wurde – dort war die Rede von der Notwendigkeit „weitreichender, nie dagewesener Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft“. Auch die Aussage, dass sich das Gewinnstreben von Konzernen oft genug in politischer und diskursiver Einflussnahme ausdrückt, die eine sachliche Debatte verhindert und eine effektive Klimapolitik blockiert, ist alles andere als eine strittige Weltanschauung. Wer die aktuelle Stagnation begreifen will, muss sich auch fragen, warum in den letzten Jahren weltweit nicht annähernd das geschehen ist, was nötig gewesen wäre, um das jetzt sich entfaltende Ausmaß der Krise abzuwenden. Der Blick auf die realen Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Politik in den vergangenen 30 Jahren, da würde ich Ditfurth zustimmen, ist nötig, um die Gegenwart zu verstehen.

Auf Fridays for Future angesprochen, erklärte sie ihre Sorge, dass die junge Bewegung kein zureichendes Verständnis dieser Zusammenhänge mitbringt, dass sich die Aktivist:innen auf ein „Ablenkungsmanöver“ einlassen – etwa auf die Forderung nach einer zu laschen CO2-Steuer oder die Versteifung auf kleine Konsumveränderungen im Alltag. Was sie danach sagte, mag heute, ein halbes Jahr später überraschen:

Und ich hab das Gefühl, dass innerhalb dieser Bewegung Extinction Rebellion der Ansatz kritischer ist und ein bisschen hartnäckiger“ (Jutta Ditfurth am 30.5.19).

Einmal das Prädikat „kritisch“ von Jutta Ditfurth bekommen zu haben – in manchen Kreisen quasi ein Ritterschlag – wird wahrscheinlich viele XR-Aktivist:innen verwundern. Wie dem auch sei, inzwischen hat sie ihre Meinung geändert. Jetzt wird die Bewegung von ihr mit Adjektiven wie „sektenhaft“ und „inhaltsleer“ belegt.

Dumm und beeinflussbar?

Es stimmt, dass wir eine bestimmte Form der Opferbereitschaft als möglichen Weg des politischen Selbstausdrucks ausprobieren. Wer schonmal fürs Klima auf die Straße gegangen oder das Wort ergriffen hat, kennt die Reaktion: „Na, die Cashewkerne, die du da isst, sind aber auch nicht in Brandenburg gewachsen. Deine Schuhe sind aus Leder und jemand hat gestern beobachtet, wie du Kuhmilch getrunken hast“ Wir alle stecken in Widersprüchen fest, wenn es darum geht, wie wir uns die Welt wünschen und wie wir selbst gerade leben. Es scheint die Annahme vorzuherrschen, dass nur wer ohne (Umwelt)Sünde ist, über die ökologische Krise sprechen darf.

Ein Weg, diese Starre aufzubrechen, ist, selbst etwas aufzugeben: Den Luxus eines Betts für die ein oder andere Nacht auf Berliner Straßen oder die Freiheit der Selbstbestimmung, wenn wir vielleicht weitergehen und mit unserem gewaltfreien Ungehorsam Haftstrafen riskieren. Das ist nichts Neues. Auf die eine oder andere Art ist beinah jede Form des politischen Selbstausdrucks ein Stück weit auch ein Opfer. Wer Vollzeit arbeitet und samstags auf die Antikohledemo fährt, opfert Stunden ihrer* Freizeit in der Hoffnung, dass es etwas ändert. Wenn trotz Regen viele Menschen zu einer Protestveranstaltung im Freien auftauchen, unterstreicht das die Botschaft in der öffentlichen Wahrnehmung.

Warum ist Opferbereitschaft im Kontext der Klimakrise plötzlich ein Problem? Bin ich selbst eine Verführte? Welche aktivistische Ausbildung muss ich mir angedeihen lassen, um zwischen den Predigten der Klimasekte und den tatsächlich angemessenen Handlungen im Angesicht klimatischer und ökologischer Eskalation differenzieren zu können? Will Jutta Ditfurth darauf hinaus, dass die Menschen, die sich bei Extinction Rebellion Aktionen engagieren unmündig sind, dass eigentlich niemand bei klarem Verstand darauf käme, sich an gewaltfreiem zivilem Ungehorsam zu beteiligen, um auf das drohende Aussterben vieler Arten und das Leid von Milliarden von Menschen hinzuweisen?

XR schürt Emotionen, die den Verstand vernebeln“ (Warnhinweis, Jutta Ditfurth).

Es wirkt fast so. Wir sollten uns vielleicht einmal über das Menschenbild unterhalten, das Ditfurths Analyse zugrunde liegt. Stehen Emotionen dem Verstand entgegen? Sind Emotionen in der politischen Praxis etwas Schlechtes und Verstand ist etwas Gutes? Ist es so einfach? Auf jeden Fall wäre sie damit nicht allein. In einer sehr viel patriarchaleren Vergangenheit war das tatsächlich mal die Lehrmeinung. So schrieb Gustave LeBon, ebenso vernünftig besorgt und fundiert warnend 1895 in seiner „Psychologie der Massen“:

So muß die Masse, die stets an den Grenzen des Unbewußten umherirrt, allen Einflüssen unterworfen ist, von der Heftigkeit ihrer Gefühle erregt wird, welche allen Wesen eigen ist, die sich nicht auf die Vernunft berufen können, allen kritischen Geistes bar, von einer übermäßigen Leichtgläubigkeit sein“

Es ist ein zutiefst sexistisches Motiv, Emotionalität mit Unmündigkeit und Beeinflussbarkeit und Verstand mit Legitimität zu verknüpfen. Worin liegt der Sinn, dieses längst überkommene, elitäre wie menschenfeindliche Klischee zu reproduzieren? Was ist daran überhaupt Analyse?

Für manche mag es befremdlich wirken, dass wir unsere Emotionalität in Bezug auf die ökologischen Krisen mit Performances und in Reden öffentlich ausdrücken. Viele von uns waren schon lange bevor es Extinction Rebellion gab traurig und verzweifelt. Jetzt nehmen wir uns gemeinsam den Raum und bestärken uns gegenseitig darin, dass unsere Gefühle angebracht und legitim sind. Was wir damit erreichen? Wir gehen Menschen auf den Keks und holen damit die Realität der Klimakrise in die Kantinen und Kneipen. Wir sprechen Menschen an, die bisher keinen Ausdruck für ihre Verzweiflung an der Ungerechtigkeit und an der Zukunft hatten und wir laden sie ein, sich ihrem Gefühl entsprechend zu zeigen und zu verhalten.

Neben diesem sehr fraglichen Punkt und den vollmundigen Verallgemeinerungen in Ditfurths Erkenntnissen, die bei einem dezentral organisierten Netzwerk von vornherein eine Unzulänglichkeit darstellen, fallen mir zwei Aspekte auf, die praktisch ineinandergreifen und die ich hier thematisieren möchte, weil ich hoffe, dass sie die Diskussion in eine konstruktive Richtung lenken können: Erstens setzt sie Ursachenforschung mit politischer Strategie gleich, was in einer deterministischen Bestimmung von politischen Akteuren mündet. An diesen Determinismen festzuhalten, mag gut begründet erscheinen, verunmöglicht praktisch aber ein Weiterkommen. Zweitens vermischt sie ihre materialistische Analyse mit einem Elitismus, der jede Form der politischen Aktivität als unzulänglich diskreditiert, der sich nicht explizit und in jedem Detail auf linke Theoriereferenzen bezieht. Dabei muss man nicht politische Theorie studiert und unzählige Bücher verfasst haben, um ein Verständnis für die Verschränkung materialistisch gegebener Pfadabhängigkeiten und globaler ökologischer Zerstörung zu gewinnen.

Wo Jutta Ditfurth falsch abbiegt

Ohne Frage: Jeder politische Aktivismus tut gut daran, zu wissen, auf welchem historischen Boden er versucht, Veränderungen zu erwirken. Wo Jutta Ditfurth allerdings falsch abbiegt, ist, wenn sie annimmt, dass sie ihre Analyse der aktuellen politischen Situation erschöpfend vollzogen hat und dass die Ergebnisse ihrer Analyse nur einen strategischen Schluss zulassen. Die Geschichte ökologischer Zerstörung lässt sich aus mehreren Perspektiven erzählen. Es gibt eine ökonomisch-materialistische Erzählung, aber es gibt auch eine ideengeschichtlich-kulturelle. Letztere wäre eine Erzählung von Kolonialismus und Patriarchat, von neugieriger, erobernder, machtdurchtränkter Wissenschaft. Von einer blind an Fortschritt orientierten und vermeintlich überlegenen westlichen Kultur, die sich zuletzt vor allem darin übte, diejenigen auszuschließen, die unter den Effekten jener Kultur leiden. Sicherlich überlappen, verschränken und ergänzen sich beide Erzählungen. Aber die zweite als Beiwerk der ersten Erzählung abzutun, mindert die politische Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt. An der Ursache müsse man ansetzen, sagt Jutta Ditfurth, und das sei nunmal der Kapitalismus mit seiner auf Eigentum basierten Macht, die in den Händen weniger liegt. Mit den Grünen sei eine Überwindung dieser Verhältnisse nicht zu machen, mit der SPD nicht, mit Fridays for Future wahrscheinlich auch nicht (ist alles im verlinkten Soundbite nachzuhören) und mit Extinction Rebellion inzwischen auch nicht mehr.

Sicherlich ist eine materialistische Analyse der Ursachen und Treiber ökologischer Zerstörung notwendig. Aber wenn es zugleich bedeuten muss, dass wir uns ausschließlich darauf versteifen, die Grenzen unserer politischen Freund-Feind-Landkarte zu pflegen, sehe ich kaum eine Chance, eine Bewegung zu schaffen, die fähig ist, die Überschreitung von klimatischen und ökologischen Kipppunkten zu verhindern. Laut den Klima- und Resilienzforschern Hans Joachim Schellnhuber und Johan Rockström könnte es in diesem Fall bis zum Ende des Jahrhunderts so weit sein, dass die Erde nicht mehr als eine Milliarde Menschen ernähren kann. Wenn wir uns fragen, wo in der Gesellschaft diese Nachricht gerade gehört und ernstgenommen wird, sehen wir, dass sich tatsächlich einiges bewegt.

Und hier kommt die andere Erzählung ins Spiel: Kulturell ist gerade viel im Umbruch. Neben den Jugendlichen von Fridays for Future sind es Eltern, Förster:innen, Ärzt:innen, Lehrer:innen, Programmierer:innen, Psycholog:innen, Kulturschaffende, Gläubige aller Religionsgemeinschaften und Wissenschaftler:innen aller möglichen Disziplinen, die sich umschauen, wie und wo sie sich in dieser Frage politisch Gehör verschaffen können. Ich wünsche mir, dass jede:r einzelne von ihnen einen Rahmen findet, der das ermöglicht. Hier tun sich bemerkenswerte Brüche auf, in einer Gesellschaft, die sich im Gros viel zu lange nicht mit Themen wie Klimagerechtigkeit und Externalisierung befasst hat. Menschen, die es bisher anderen überlassen haben, diese Krise zu lösen, merken, dass es jetzt auf sie selbst ankommt und sie sind bereit, sich dafür nach Feierabend in Plena zu begeben und sich auf die Straße zu setzen. Sind diese Menschen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position unbedingt dazu prädisponiert, sich auf „Ablenkungsmanöver“ einzulassen, die die Ursachen der Krise unangetastet lassen? Ich glaube nicht. Sind sie unbedingt dazu prädisponiert, Teil eines klassischen linken Projekts zu werden? Wohl auch nicht.

Hier liegt die Chance, aber auch die große Herausforderung, die ich bei Extinction Rebellion sehe. Dass die Wissenschaft unbestreitbar eine große Schnittmenge mit linksprogressiven Forderungen teilt, schafft eine gute Grundlage für gemeinsames politisches Handeln und für einen Austausch darüber, wie wir eigentlich zusammenleben wollen. Wenn die Gesellschaft die wissenschaftlich fundierte Position ernstnimmt, dass die Wirtschaft in den nächsten 5 - 10 Jahren vollständig dekarbonisiert und der Biodiversitätsverlust gestoppt werden muss, um den Worst Case abzuwenden, kommt sie – ideologische Differenzen hin oder her – nicht umhin, Finanzmärkte und Konzerne zu domestizieren, die Importe und den Konsum von nicht nachhaltig und fair hergestellten Gütern strikt zu regulieren. Sprich: die Wirtschaft im Ganzen einer Kontrolle zu unterwerfen. Ob das eine demokratische oder eine autoritäre Kontrolle ist, dazu sagt die Wissenschaft nichts. Womit wir bei der Herausforderung wären, vor der emanzipatorische Bewegungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stehen.

Ist Extinction Rebellion eine emanzipatorische Bewegung?

Sie ist es nicht und sie wird es niemals werden, würde Jutta Ditfurth wahrscheinlich sagen. Fakt ist: Emanzipatorische Werte stellen ihr Fundament dar. In den Prinzipien und Werten, die das verbindende Element und die Bedingung aller Ortsgruppen und Arbeitsgruppen bilden, heißt es:

„Wir arbeiten aktiv daran, ein geschütztes und für alle zugängliches Umfeld zu schaffen. Verhalten, das Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Islamophobie, Homophobie, Behindertenfeindlichkeit, Klassendiskriminierung, Altersvorurteile und alle anderen Formen der Diskriminierung, einschließlich beleidigender Sprache, aufweist, akzeptieren wir weder persönlich noch online“

Und weiter:

Wir überwinden hierarchische Machtstrukturen. Wir gleichen das Gefälle von Macht und Einfluss aktiv aus, um eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen“

Fakt ist aber auch, dass sich Extinction Rebellion in der Vergangenheit nicht unbedingt den Ruf gemacht hat, sich als ein bescheidener und kleiner Teil einer großen und vielfältigen Klimagerechtigkeitsbewegung zu begreifen. Hier wurde durch Kritik von Links ein wichtiger Reflexions- und Lernprozess angestoßen. Und hier hat die junge Bewegung noch Arbeit vor sich. Wir müssen zeigen, dass wir es ernst meinen. Nicht nur, was unsere Solidarität zu anderen Bewegungen und Taktiken angeht. Auch dass wir es schaffen, in der Bewegung Strukturen aufzubauen, die sich aktiv um die Inklusion leiser und marginalisierter Stimmen bemühen und dass wir uns weiterhin nicht davor scheuen, uns immer wieder selbst in Frage zu stellen. Dabei ist der Fluchtpunkt für mich völlig klar: Klimaschutz ohne Klimagerechtigkeit reproduziert Diskriminierung. Und eine Bewegung, die behauptet, sich für Biodiversität einzusetzen und damit nur die Biodiversität im eigenen Vorgarten meint, ist keine Bewegung, die Hierarchien überwinden will. Diese basale Einsicht immer wieder neu zu betonen und zugänglich zu machen, ohne zugleich in der Praxis überheblich zu werden und einen potenziellen Lernprozess zu unterbinden, ist das Spannungsverhältnis, in dem ich mit meinem Aktivismus bei Extinction Rebellion etwas verändern möchte. Momentan sind die Prinzipien und Werte nicht viel mehr als ein Auftrag und ein Versprechen, sie müssen sich in unseren Strukturen, in unserer Strategie und in unserem Miteinander widerspiegeln. Dabei hilft ein kritischer Blick von außen, der Mängel in der gelebten Praxis häufig klarer sehen kann. Was noch mehr hilft, ist ein Hilfsangebot von Gruppen, die hier schon wesentlich mehr Erfahrung haben. Was hingegen ziemlich wenig zu einer tatsächlichen Veränderung beiträgt, ist, in traditionsreich-herablassender Altherrenmanier vom bequemen Sessel aus zu fabulieren und zu prophezeien, was XR ist oder niemals sein wird, so als stände dieser Sessel schon außerhalb der sexistischen, rassistischen, kapitalistischen und wärmer werdenden Welt.

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