XR Einblicke … ein kleiner Ausschnitt zum Jahreswechsel 2019/20

Geschrieben von Britta Pohlmann am 21.01.2020

Blick zurück:
Ende Dezember - Der Waldzustandsbericht Brandenburg 2019

Wir singen vor der Staatskanzlei in Potsdam.
Vor uns auf dem Bürgersteig liegt eine große Fichte.
Vielleicht sechs Meter lang. Sie hat keine Nadeln mehr.
Borkenkäfer haben sie innerhalb von zwei Monaten aufgefressen.
Dennoch ist sie sehr schwer. Mindestens sechs Menschen braucht es, um sie zu tragen.
Einer der Träger sagt später. „Ich zittere immer noch vor Anstrengung.” Aber die Augen strahlen.
Auch ich strahle innerlich. Dieses Gefühl, etwas Wesentliches und Sinnvolles zu tun, verlässt mich nicht. Den ganzen Tag nicht.
Schon früh morgens beim Aufstehen lache ich in mich hinein: ACT NOW!
Auf geht‘s nach Potsdam. An unserem Treffpunkt warten schon einige Menschen.
Ein junger Mann fällt mir besonders auf. Er hat sich den Bart weiß angemalt und eine Weihnachtsmütze auf dem Kopf. Später erzählt er mir, dass er aus der Provinz kommt, und dort eine Ortsgruppe gegründet hat. In der Gegend gibt es viele Rechte. Ich verstehe.

Vor der Staatskanzlei berichtet der Minister über den katastrophalen Zustand des Waldes.
Nur noch 14% des Waldes in Brandenburg sind gesund.
Besonders Buchen und Eichen sind bedroht.
Ich muss schlucken. Das übersteigt meine Vorstellungskraft. Auch wenn ich im Sommer so viele tote Bäume gesehen habe wie noch nie in meinem Leben.
Abends im Bus werde ich etwas schüchtern von einer Frau in meinem Alter angesprochen.
Ob ich auch zur XR Weihnachtsfeier fahre?
Ich wunder mich, woher sie es weiß. Ach, ja klar. Ich habe ja noch das XR Embleme an der Jacke!
Sie trägt eine Schachtel mit Kuchen und sagt: „Bei XR sind ja so viele Junge.”
Ich muss lachen: „Nein, zweidrittel der Menschen sind eher älter. So wie wir. Das sagt zumindest eine interne Studie.”

In der Küche ist es voll. Wir drei Frauen sitzen zusammen. Erzählen von unseren Kindern. Fridays for Future. Von der Schwierigkeit, im persönlichen Umfeld über das Thema Klimakrise zu sprechen.
Und von einer Tanzperformance: STAY ALIVE!
Wieder lachen wir. Da bekomme ich einen Anruf von meiner Tochter.
Mathe ist so schwer. Und ihr MSA* Partner blöd.
Ich beeile mich nach Hause zu kommen.
Sie sitzt sehr ernst vor ihren Hausaufgaben. Ich helfe ihr, das Papierschloss für Mathe zu basteln.
Schau sie an und weiß, wieso ich das hier alles tue.

In unserem XR Café komme ich am nächsten Abend mit einer jungen Frau ins Gespräch. Das Café ist für sie der erste Kontakt zu XR. Sie hat große Lust, sich hier zu engagieren, und strahlt eine tiefe Entschlossenheit aus. Es stellt sich heraus, sie ist eine erfahrene Bloggerin zu Umweltthemen.
Und direkt am nächsten Tag schickt sie mir diesen Text für die Infobox.
Ich denke: Wow! Das ist XR – Feeling!


Dass der Borkenkäfer nun auch in Deutschland so verheerende Schäden anrichtet, liegt unter anderem an der Dürre 2018 und späteren Sturmschäden. Der durch Trockenheit und Schäden ausgelöste Stress schwächt das Immunsytem der Bäume, die infolgedessen den Fraßschäden durch die winzigen, aber zahlreichen Borkenkäfer wenig entgegenzusetzen haben. Eschen leiden vor allem unter einer Pilzerkrankung, dem Eschentriebsterben. Auch Buchen werden immer wieder von einer Pilzkrankheit (Zunderschwamm-Pilze) befallen, die vom Klimawandel begünstigt wird. Aber auch die Trockenheit selbst macht Buchen besonders zu schaffen und führt zum Absterben großer Waldflächen. Bei Eichen kann man die Bedrohung nicht auf einen einzelnen Faktor zurückführen. Neben dem häufig genannten Eichenprozessionsspinner haben zum Beispiel auch der Standort und Witterungsextreme einen großen Einfluss auf die Bäume, die dann gegebenenfalls gegenüber anderen Schädlingen wie dem Eichenprachtkäfer oder Pilzerkrankungen anfällig werden.


Anfang Januar 2020 - Blickwechsel

Wir sitzen im Zug. Mein Freund kümmert sich um unsere Räder. Wir wollen endlich raus aus den Häuserschluchten. Bäume sehen. Landschaft. Sonne.
Mir gegenüber sitzt eine junge Mutter. In einem grünen Tuch vor ihrer Brust schläft ein Baby.
Es ist noch sehr klein.
Sie erklärt ihrem Sohn geduldig, was da draußen beim Vorbeifahren zu sehen ist. Er sitzt im Kinderwagen. Und schaut mit seinen wachen Augen umher.
Da ein Baum! Deutsche Bahn! Fahr – plan Komplizierte Worte, denke ich und staune. Er ist höchstens drei Jahre alt. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen.
Ich höre ihn sagen: „A-PO-KA-LYP-SE”
Die Mutter wiederholt langsam und mit etwas Stolz in der Stimme dieses Wort: APOKALYPSE.
Das Kind sagt wieder: ,,A-PO-KA-LYP-SE” Ich schaue die Mutter an.
Unsere Blicke treffen sich.
In ihren Augen sehe ich Ratlosigkeit. Hilflosigkeit. So ungefähr: „Ja, ich weiß um die Situation, aber wir können ja eh nix machen…”
Später setze ich mich zu ihr. Spreche mit ihr über diesen Augenblick und gebe ihr einen Flyer von Extinction Rebellion. - Ja. Davon hat sie gehört.
Dann erzählt sie, dass sie zusammen mit einem Freund Silvester gefeiert haben. Er ist Linguist, und der Sohn ist fasziniert von diesem Wort.
Der Zug hält. Potsdam Hauptbahnhof. Sie dreht sich noch einmal um. Winkt mir. „Den Zettel schau ich mir auf jeden Fall an!” Sie lächelt.
Und dann steigt sie aus. Mit dem schlafenden Baby, dem Kleinen und einem riesigen, schwarzen Koffer. THE FUTURE IS UNWRITTEN sagt mein Freund, als wir später durch die Sonne laufen.
Mir wird etwas leichter ums Herz.
Ja. Aber die Zukunft beginnt jetzt.

ACT NOW!

Love and Rage


*MSA ist der Mittlere Schulabschluss



Trauerrede

Versammelte Trauergemeinschaft,

heute verabschieden wir uns von dieser jungen Fichte, die nicht stark genug war, unserer Umweltzerstörung zu trotzen.
Heute soll sie stellvertretend stehen für die Bäume auf vielen tausenden Hektar Waldfläche Brandenburgs.
Heute ist sie Mahnung, unser Zusammenleben mit der Umwelt tiefgreifend zu hinterfragen.
Gestern wuchs sie, wo ihr Samen keimte.
Gestern wehte der Wind durch ihre Nadeln.
Gestern nistete ein Vogelpaar in ihrem Wipfel.
Gestern bot sie uns Schutz vor den Elementen.
Gestern schätzten wir, dass ihr Holz uns wärmte. Gestern begannen wir, die Natur uns zu unterwerfen.
Heute pflanzen wir ihre Setzlinge mit System.
Heute ist sie Teil einer Industrie.
Heute ist sie ein Produkt.
Heute ist sie gestorben.
Morgen wird man sie in Brandenburg vergeblich suchen.
Morgen wird kein Vogel einen Nistplatz finden. Morgen wird ihr Schicksal unseres sein.
Darum lasst uns heute ihren Tod begreifen als Weckruf, als Wendepunkt, als letzte Möglichkeit. Lasst uns heute einstehen gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, gegen die Verschwendung von Begrenztem, gegen das toxische System.
Lasst uns heute einstehen für eine schonungslos ehrliche Berichterstattung über die Klimakrise, für ein nachhaltiges Miteinander, für die Ausrufung des Klimanotstandes nicht nur in der Stadt Potsdam, sondern auch im Land Brandenburg.
Lasst diese Fichte eine der letzten sein, die wir betrauern müssen. Lasst uns gemeinsam neue Konzepte entwerfen, lasst uns heute neu denken.
Auf dass auch nach uns folgende Generationen das Vogelpaar im Wipfel entdecken können.

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