Eines Tages wachst du auf und Dinge, die bis dahin ganz normal waren und von deinem Bewusstseins-Radar nur gelegentlich gestreift wurden, sind auf einmal unfassbar, schockierend, unerträglich. Du siehst Zustände, die unglaublich scheinen, und je genauer du hinsiehst, desto erschreckender wird das Bild. Aber wenn du mit Freundinnen darüber sprichst, triffst du auf Unverständnis, Bedauern für deine schwachen Nerven oder genervtes Abwinken ob deiner Naivität. Die Welt ist ungerecht, das war schon immer so; es gibt Gewinnerinnen und Verliererinnen und wir haben auch unsere Sorgen. Allen kann man sowieso nicht helfen.
Du möchtest dich beruhigen lassen und in der Vergangenheit hast du dich beruhigen lassen – denn was ist die Alternative? Was kannst du schon tun? Doch dir wird klar, dass deine Beruhigung keine Ruhe war; es war eher eine Lähmung, ein Abwenden, Wegsehen, Verdrängen, Stillhalten. Paralyse. Ein ungutes Dämmern auf Zeit bis zum nächsten Wachmoment.
Darum redest du diesmal mit niemanden darüber; du hältst es aus und es tut weh. Es tut weh, das unermessliche Leid zu sehen, und die Augen nicht schnell zu verschließen, dich nicht abzulenken oder ablenken zu lassen, sondern – im Gegenteil – bewusst hinzusehen. Was du siehst, schmerzt und was du spürst, ist der unendliche Schmerz eines sterbenden Planeten und einer Vielzahl seiner Bewohnerinnen.
Von dem Moment an, an dem du diesen Schmerz zugelassen hast, gibt es kein Zurück.
Es ist ein erschütternder Prozess anzuerkennen, was tatsächlich passiert: Gewalt, Ungerechtigkeit und Destruktion bestimmen das Weltgeschehen, befördern den Klimawandel und bestimmen – auf weniger direkt bedrohlichem Niveau – auch das Leben in unseren privilegierten westlichen Demokratien: Pestizid- und Glyphosateinsatz, Vermüllung, Versauerung und Überfischung der Meere, Ausgrenzung, Abschiebung, Subventionierung von lebensgrundlagenzerstörender Agrarwirtschaft und Massentierhaltung, Forschung an Lebewesen, Armut, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Luftverschmutzung, Artensterben. Bürgerinnen haben das Recht auf freie Meinungsäußerung, dürfen petitionieren, demonstrieren oder agitieren – solange sie keine echte Veränderung erwarten. Schulstreiks sind per se wohl kaum zu verteufeln, aber bitteschön außerhalb der Schulzeiten und ohne den geplanten Lauf der Dinge zu stören. Der ökologische Kollaps wird schließlich nicht in dieser Legislaturperiode erwartet.
Mit dem gesunden Menschenverstand sind die Zustände nicht zu begreifen vor allem nicht ihr anscheinend unangetastetes Fortbestehen. Alles legal, alles normal – liegt es doch an dir?
Du siehst jetzt mit anderen Augen und stellst fest, du bist nicht allein. Du bist ein/s/e/r von vielen und du erlebst – vielleicht zum ersten Mal seit langem – das unschätzbar schöne Gefühl, anzukommen. Eine Ankunft wie eine Heimkehr und mit ihr kommt die Erkenntnis, dass du etwas bewirken kannst – du kannst die Welt verändern. Es ist egal, in welcher Richtung und auf welchem Gebiet du dich einsetzt, dein Engagement für das Leben hat Wirkung und es erfüllt auch dein persönliches Sein mit Sinn und Würde und gibt dir deinen Mut zurück. Neben dem Schmerz spürst du Liebe, die Liebe, die uns alle mit allem verbindet.
Zusammen werden wir die Welt vielleicht nicht retten, aber wir werden für ihren Erhalt kämpfen, gegen weitere Zerstörung und weiteres Abschlachten. Wir lassen uns nicht länger durch unsere Tatenlosigkeit zu Mittäterinnen machen, sondern wir verteidigen unsere Menschlichkeit durch den Widerstand mit dem wir uns gegen ein System stellen, dass das Leben verachtet.
Für das Leben. Als Zeichen unserer Liebe und unseres Mitgefühls. Für den Erhalt unserer Würde und für die Zukunft.