Ellen Gerdes ist Ingenieurin und in der Entwicklungszusammenarbeit in Afrika und Asien tätig. Sie engagiert sich seit Jahren für Extinction Rebellion. Im Rahmen der Herbstrebellion 2022 in Berlin nahm sie am 19. September an einer Straßenblockade teil. Gegen das Gerichtsurteil gegen sie legt sie Einspruch ein. Wir dokumentieren ihn.
An das
Amtsgericht Tiergarten 10548 Berlin
Sehr geehrte Damen und Herren,
mir wird zur Last gelegt, in Berlin am 19. September 2022 mit einer Klebeaktion den Verkehr behindert zu haben. Dieses Vergehen möchten Sie mit 50 Tagessätze zu je 50 € bestrafen. Dagegen erhebe ich Einspruch. Ich bin der Auffassung, dass es sich um keine Straftat handelt und erwarte einen Freispruch. Da ich jedoch derzeit gesundheitlich eingeschränkt bin und zudem beruflich viel im Ausland arbeite (als Beraterin in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit), bin ich grundsätzlich einverstanden, das Verfahren ohne Hauptverhandlung abzuhalten.
Ich lege Einspruch ein gegen das Strafverfahren an sich sowie gegen Strafmaß und Höhe des Tagessatzes. Ich stimme zu, dass mit meiner Aktion der Verkehr behindert wurde, jedoch waren zu keiner Zeit Personen blockiert, da der Abfluss des Verkehrs über Ausweichmöglichkeiten gegeben war. Zudem habe ich mich nach der Ablösung den Beamten nicht widersetzt, sondern bin selbständig aufgestanden und den Beamten gefolgt. Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte entfallen somit. Die „Gebühr“ von 241 € für die Ablösung habe ich bereits beglichen.
Zur Beurteilung des Vorfalls ist der Anlass für meinen Protest grundlegend und muss Berücksichtigung finden: Es ist wissenschaftlich belegt, dass der Planet Erde auf einen klimatischen Kontrollverlust zurast, der zum Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation führen kann. Völkerrechtlich hat sich Deutschland daher konkret zu wirksamen Maßnahmen verpflichtet, den Anstieg der Erdtemperatur deutlich unter 2° C über dem vorindustriellen Niveau zu halten und auf 1,5° C zu begrenzen. Das Bundesverfassungsgericht hat im März 2021 klargestellt, dass auch das Grundgesetz zu wirksamen Maßnahmen gegen die Erderhitzung verpflichtet (mit Konkretisierung des in Artikel 20a Grundgesetz verankerten Klimaschutzziels) und so die Einhaltung der völkerrechtlichen Vorgaben verfassungsrechtlich abgesichert.
Die Klimaziele der Bundesregierung zur Einhaltung des 1,5°-Limits sind jedoch nicht ausreichend. Zudem ist gegenwärtig eine Novelle geplant, die die sektorspezifischen Ziele weiter schwächt. Damit sind die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in Gefahr.
Ich bin durch meine berufliche Tätigkeit mit den grauenvollen Folgen der klimatischen Veränderungen im globalen Süden seit Jahren vertraut. Ich bin Zeugin des unsäglichen Leids, das schon heute viele Millionen Menschen erdulden, sei es durch verheerende Überflutungen wie in Pakistan oder im Kongo, dem stillen Sterben durch Verhungern in Ostafrika, dem Kampf der ländlichen Bevölkerung in Ghana gegen den ausbleibenden Regen. Es ist wissenschaftlich belegt, dass, wenn die Menschheit weiter zur Erhitzung des Planeten beiträgt, über 3 Milliarden Menschen ihre Heimat werden verlassen müssen, durch Anstieg des Meeresspiegels, durch Todeszonen um die gesamte Äquatorregion, durch Dürren, Überschwemmungen und Extremstürme global. Und auch für Europa besteht eine extreme Bedrohung. So könnte sich z. B. die atlantische Umwälzströmung (einer der Kipppunkte im Klimasystem) derart abschwächen, dass der Golfstrom Nordeuropa nicht mehr erreicht. Was das für das Klima in Deutschland bedeutet, ist kaum zu ermessen.
Klimawissenschaftler:innen fordern einhellig seit Jahren konsequenten Klimaschutz. Sogar Verfassungsexperten rufen ganz aktuell die Bundesregierung zu mehr Klimaschutz auf. Sie alle unterstreichen, dass energische und wirksame Schritte zur Reduktion des CO2-Ausstoßes von "größter Wichtigkeit für die Erhaltung der Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens" seien, heißt es in einem veröffentlichten Brief, der von 60 Expertinnen und Experten für Verfassungsrechtler und Völkerrecht unterzeichnet wurde.
Als Ingenieurin bin ich mit dem Klimasystem und der von der Erderhitzung ausgehenden Bedrohung für alle zukünftigen Generationen vertraut. Ich bin entsetzt über das ungenügende Handeln der Politik. Noch könnte das Schlimmste verhindert werden, doch es tut sich viel zu wenig. Ich bin überzeugt, dass mit diesem Wissen Verantwortung einhergeht. Es ist daher meine Pflicht, alles in meinen Möglichkeiten Stehende zu tun, Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit zu Handeln zu lenken. Wie jedoch kann ich als Mitglied der Zivilgesellschaft überhaupt Aufmerksamkeit schaffen?
Ich halte seit Jahren Vorträge, organisiere angemeldete Demonstrationen, initiiere und unterschreibe Petitionen. Doch all dies scheint wirkungslos zu sein. Damit Medien, Politik und Gesellschaft dem Anliegen endlich Gehör schenken und relevant handeln, sind daher auch disruptive Protestformen wie meine Demonstration im September letzten Jahres notwendig. Ihre straf- und polizeirechtliche Reaktion auf diesen Protest ist daher wider das Verfassungsrecht: Das Versammlungsrecht schützt Protestformen, die disruptiv wirken und von der Mehrheit als Störung empfunden werden. Die Bundesregierung hat kein effektives Klimaschutzprogramm aufgelegt und kommt ihren völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen nicht nach. Mein disruptiver Protest hat auf diesen gefährlichen Missstand aufmerksam gemacht und ist damit eine vom Versammlungsrecht geschützte Protestform. Ich gehe daher davon aus, dass das Verfahren eingestellt wird.
Mit bestem Gruß
Ellen Gerdes
Da Ellen auf Freispruch plädiert, wird das Verfahren nicht eingestellt. Die Verhandlung ist auf den 11. Januar 2024 festgesetzt.