Eine bessere Welt ist möglich

Geschrieben von Cléo Mieulet am 02.10.2022

© Stefan Müller

Samstag, 17. September 2022. Mit einem unangemeldeten Straßenfest blockiert Extinction Rebellion das Schlesische Tor in Berlin und eröffnet die Herbstrebellion. Auf einem pink lackierten Auto mit der Aufschrift „Straßen den Menschen“ steht Cléo und nimmt uns in ihrer Rede mit auf eine Zeitreise.

Lasst uns für das Leben kämpfen!

Eine Rede von Cléo Mieulet

Europaweit werden ca. 100.000 Leerflüge p.a. geflogen, juckt nicht.

Pakistan ist zur Hälfte überflutet, 30 Millionen Menschen sind obdachlos, das juckt nicht.

Armenien wird von Azerbaijan überfallen, das juckt auch nicht.

Diejenigen, die am wenigsten Schuld tragen an der rasanten Erhitzung und Zerstörung, sind am härtesten getroffen von ihren Auswirkungen, aber das juckt nicht.

24 der großen Flüsse in Europa waren diesen Sommer ausgetrocknet, juckt nicht.

Die Tafeln können den Hunger in Deutschland nicht mehr eindämmen, aber das juckt nicht.

Das juckt alles nicht. Und jetzt gehen wir wieder unseren überteuerten Kaffee trinken.

Es sind wahnsinnige Zeiten. Wir können ja doch nichts machen.

Doch!

© Stefan Müller

Es geht heute nicht mehr darum, die Erwärmung des Planeten auf 1,5° C zu begrenzen. Das ist vorbei. Es geht darum, zu begrenzen, wie viele Menschen sterben, wie viele vertrieben werden, wie viele unerträgliche Hitze, Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren und Hunger erleben. Und es geht darum, wie viele Arten und Lebensräume für immer verloren gehen werden und was wir überhaupt noch retten können. Es geht um Gerechtigkeit.

Jede Entscheidung, die unsere Regierung heute trifft und die uns weiter von der Dekarbonisierung, also der fossilen Vollbremsung, entfernt, wie die Subventionierung fossiler Brennstoffe durch die EU und USA, den Bau von LNG-Terminals und die Weigerung, dem Globalen Süden Reparationen zu zahlen, führt direkt zu mehr Tod und Zerstörung.

„Unsere Zeit ist kostbar, denn das Leben ist kurz“, sagte schon Seneca im alten Rom.

Deswegen möchte ich euch einladen zu entschleunigen, euch auf einen kleinen Spaziergang in die nahe Zukunft mitnehmen, in eine mögliche Zukunft, ins Jahr 2024, den 17. September.

Wir sind zu Hause, in deiner Stadt (wenn du auf dem Land lebst, stell Dir vor, Du besuchst eine Person in einer Stadt, die du gut kennst). Du verlässt gerade dein Haus, vielleicht musst du eine Treppe hinuntergehen, und du öffnest die Tür zur Straße. Zuerst siehst du den Garten. Noch letztes Jahr waren hier Parkplätze, massenhaft Autos. Die Flächen wurden alle entsiegelt, nur noch in der Mitte der Straße ist eine Bahn gepflastert.

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Was hörst du? Die Vögel zwitschern, die Kinder lachen, die Leute quatschen. Bevor du deinen Spaziergang beginnst, setzt du dich für einen Moment auf eine kleine Steinmauer, die den großen Gemeinschaftsgarten vom Fahrrad- und Lieferweg trennt, im Schatten junger Bäume, und du siehst für ein paar Sekunden eine Eidechse, bevor sie in einer Steinritze verschwindet. Auf dem Boden raschelt es: der Igel mit seinen zwei Kindern. Du riechst den intensiven Duft der letzten reifenden Tomaten; die Gemeinschaftsgärten deiner Straße haben die ganze Nachbarschaft mit einer ordentlichen Menge davon versorgt. Im nächsten Jahr werden auch die ersten jungen Obstbäume Früchte tragen.

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Wie das funktioniert? Viele der Nachbar:innen machen ein bis zwei Nachmittage die Woche mit, sie kümmern sich um den Garten. Und es ist einfach, weil ihr Platz habt, einen mit Solarpaneelen überdachten Ort, wo die Gerätschaften sind, und auf ein paar weiteren ehemaligen Parkplätzen steht das Kiezgewächshaus, wo auch im Winter Salat wächst und viel vorgezogen werden kann. Deine Nachbarschaft wird dabei von einer professionellen Permakultur-Gärtnerin begleitet, deren Stelle vom Stadtbudget finanziert ist. Auf der anderen Straßenseite befindet sich der Laden der regionalen bäuerlichen Genossenschaft, deiner SoLaWi, die dein Gebiet beliefert. Zweimal die Woche werden hier frische Lebensmittel aus der Region verteilt, auch das mitorganisiert durch die Nachbarschaft.

An der nächsten Kreuzung, gleich neben der Bibliothek der Dinge (wo du Spiele und Werkzeug und alles Mögliche leihen kannst) und der Lastenradwerkstatt (hier werden zum Teil verrückte Gefährte aus alten Fahrrädern gebaut, letzte Woche hat unser Kiezglaser eine Sonderkonstruktion bekommen) befindet sich der Nachbarschaftsladen, hier trefft ihr euch, plant, organisiert und plaudert, und manchmal wird da auch mächtig gefeiert. Auf dieser Kreuzung befindet sich auch die Nachbarschaftskantine, auch sie betrieben von einem tollen Kiezköch:innen-Team und solidarisch wirtschaftend.

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Du hältst dich auf diesem Platz auch gern am Abend auf. Diese Kreuzung, die früher hässlich, laut und stinkend war, ist jetzt dein Dorfplatz. Die Straßenlaternen sind bunt gedimmt, so dass sie zwar Licht spenden, aber den Insekten nicht mehr schaden. Überall sind hier Pflanzen und verschiedenste Spiel- und Sitzgelegenheiten sind hier verteilt.

Du gehst an Häusern entlang, die alle vertikal mit Efeu sowie wildem und essbarem Wein bepflanzt sind, in dem viele Vögel brüten und Insekten schwirren. Dazwischen sind Sonnenkollektoren installiert, deren Leistung durch die Kühlung der Pflanzen verstärkt wird. Diese vertikale Begrünung ist jetzt Standard, sie kühlt im Sommer, dämmt im Winter und schafft Räume für Biodiversität, sie sieht gut aus und ist billig! Und lächelnd erinnerst du dich daran, wie in der staubigen Hitze der Straße vor allem Autohupen und Motoren zu hören waren.

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All diese Veränderungen bedeuten, dass viele Menschen jetzt in neuen Bereichen arbeiten, und auch für dich war es eine bemerkenswerte, eine große Veränderung in deinem Leben. Du arbeitest immer noch in deinem alten Beruf, aber nur noch zwei Tage in der Woche. Du hast ein Bildungsjahr als Kompostfachmensch begonnen, du wirst gerade Expertin für Erde, Mikroorganismen, Würmer, Käfer und Gärprozesse! Andere Nachbar:innen bilden sich im Bereich der Reparatur oder der Wiederverwendung von Textilien. Du und die anderen in deiner Nachbarschaft, ihr geht alle regelmäßig zu eurem Transformationszentrum. Es ist ein ehemaliger Flughafen, diese Infrastrukturen stehen jetzt landesweit leer, seit im Mai 2023 die Fossilvollbremsung eingeleitet wurde. Und die neuen Praktiken brauchten Räume, in denen das nötige Wissen geteilt wird. Praktische Fähigkeiten, aber auch Selbstorganisation, gewaltfreie Kommunikation oder Aufbau einer Genossenschaft sind Fähigkeiten, die man dort lernen kann.

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Es ist wunderschön und sehr herausfordernd, was hier passiert. Die häufigen Hitzewellen gefährden alle erreichten Fortschritte, aber du und deine Gemeinschaft lernt, darauf vorbereitet zu sein. Es regnet jetzt selten und heftig, deshalb habt ihr für die Dürremonate neben jedem Haus Regentonnen aufgestellt, und das restliche Wasser versickert in den vielen neuen Waldgärten und den Mikronaturschutzgebieten.

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Es ist kaum zwei Jahre her, dass du und viele Menschen in deiner Stadt durch Organisieren, offene Versammlungen, großangelegte Bündnisse und starke Streiks sehr schnell sehr viel verändert habt.

Ihr habt durch Aktionen des zivilen Ungehorsams gewonnen, ihr habt einfach angefangen, den Teer und das Pflaster selbst zu entfernen, ihr habt gepflanzt, ihr habt Straßen und Fabriken, sogar Schulen und Einkaufszentren blockiert. Ihr habt euch mit den Menschen solidarisiert, die im Winter 22 so verzweifelt waren, dass sie ihre Strom- und Gasrechnungen, die Lebensmittel nicht mehr bezahlen konnten. Ihr selbst kamt in große finanzielle Nöte. In diesem Winter wurde den meisten Menschen klar: Die Ausbeutung von Menschen und von Natur haben dieselbe Ursache. Und das hat die Proteste beflügelt. Und diese sind zusammengewachsen. Ihr habt euch zusammengefunden, euch geeinigt und gemeinsam die großen Streiks gestartet. Arbeiter:innen von Amazon, von Schlachtbetrieben, von allen Fabriken, die nicht die notwendigsten Dinge wie Medikamente oder Lebensmittel produzieren, haben sich Schritt für Schritt der Streikbewegung angeschlossen.

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Da ist die Solidarität entstanden in deiner Nachbarschaft, und als auch die ganzen Freiberufler:innen aus den Coworkingspaces, sogar die Beamt:innen (ja, die Verwaltung und Schulen auch!) mit eingestiegen sind, und das Ganze in einer riesigen 67-tägigen Streikaktion kulminierte, das hat dann alles geändert.

Die heute zum großen Teil ausgewechselte Regierung ist jetzt das ausführende Organ von vielen Bürgerinnenräten, und Macht wurde massiv dezentralisiert. Was im Kiez passiert, wird zum allergrößten Teil von denen, die hier leben, entschieden, und das macht es möglich, so schnell Veränderung voranzubringen.

Ihr und all die anderen haben es geschafft, dass eure Region am 1. Januar 2024 aus der Massentierhaltung ausgestiegen ist. Am selben Tag trat das Moratorium für die Abholzung von Bäumen in Kraft und 30 % der Region wurden verwildert. Die größten Konzerne wie RWE, Nestlé und BMW wurden vergesellschaftet und weitere finanzielle Umverteilungsmaßnahmen wurden durchgeführt. Ihr seid dabei, den Raum in den Häusern wieder gerechter zu verteilen, so ist akute Wohnungsnot ein Problem von gestern.

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Ökologische Landwirtschaft in kleinem Maßstab ist jetzt die verpflichtende Norm. Deine Region erreicht eine Kreislaufwirtschaft von 80 % bei der Verwendung von Materialien. Umweltverschmutzung wird streng geahndet, und die für die biologische Vielfalt reservierten Gebiete werden geschützt und kontrolliert. Kein Glyphosat und quasi keine fossile Verbrennung mehr. Kein Import von Soja aus Südamerika mehr, kein Abholzen für IKEA oder pseudogrünes Heizen. Kein Hungerlohn für zerstörerische Tätigkeiten.

Es war wirklich eine Revolution des Bewusstseins, die wir gebraucht haben, es war auch eine Revolution der Vorstellungskraft. Es war eine Revolution der Herzen. Es war eine Revolution.

Wir haben die Natur nicht verteidigt. Wir waren die Natur, die sich selbst verteidigte.

© Stefan Müller

Und nun fliegen wir zurück in die Gegenwart.

Das ist kein Märchen, das ist eine mögliche Zukunft.

Wie kommen wir da hin? Zuhören, Reden, Verbinden, Organisieren, Regenerieren, und nochmal. Teilen wir unsere Ängste und Gefühle, teilen wir unseren Mut und unser Wissen. Diskutieren wir, auch wenn die Leute keinen Bock haben. Helfen wir mit, die Blindheit gegenüber der Zerstörung und Ausbeutung zu beenden. Grenzen wir uns scharf gegen rechts ab und seien wir pragmatisch flexibel mit progressiven, linken Gruppen. Aufgeben ist keine Option.

Lasst uns ausprobieren, was möglich ist. Wir sind nicht ohnmächtig.

Lasst uns hartnäckig bleiben, lasst uns Spaß am Kämpfen haben, und unsere Kämpfe verbinden. Lasst uns für das Leben kämpfen. Wir sind viele.

Wir wollen überleben!

© Stefan Müller

PS: Danke an Johanna Schellnhagen für die starke Inspiration und den visionären Film.

Der laute Frühling


Video XR Blockade Schlesisches Tor

Video XR Herbstrebellion 2022

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