Der lange Atem, den wir brauchen

Geschrieben von Massi am 23.03.2022

Aktivismus und Regeneration

Massi, ein Buch lesend, während Polizist:innen den Lock On lösen (bei der Aktion "1,5 ° ist tot“, 5. März 2022, Marschallbrücke, Berlin). Foto: © Stefan Müller.

Mit diesem offenen Brief wende ich mich an die Klimabewegung und im speziellen an XR (da die meisten meiner Erfahrungen im Kontext von XR passiert sind). Nach dem, was ich letztes Jahr in meinem Aktivismus erlebt habe, möchte ich gerne mit euch teilen, was ich über Regeneration und nachhaltigen Aktivismus gelernt habe.

Kurz zu mir: Ich bin Mitte zwanzig, habe im Oktober 2020 mit Aktivismus bei XR angefangen (bin jetzt jedoch in verschiedenen Gruppen aktiv), bin unter den Namen Massi und Tiger bekannt, benutze das Pronomen mensch und bin agender (heißt: ich habe kein Geschlecht/Gender). 2021 war für mich ein sehr krasses Jahr. Ich habe vieles erlebt und angefangen, immer mehr Zeit in den Aktivismus zu stecken. Und wenn ich mein letztes Jahr mit einem Wort beschreiben sollte, wäre das „Überarbeitung“.

Dabei bin ich noch recht entspannt in das Jahr gestartet. Ich habe immer mehr meine Leidenschaft für Aktivismus entdeckt und mich immer mehr eingebracht, vor allem auf organisatorischer Ebene, und das hat mir auch Spaß gemacht. Endlich hatte ich das Gefühl, etwas gegen die Klimakrise ausrichten zu können, endlich musste ich nicht mehr tatenlos zusehen und mich über die allgemeine Tatenlosigkeit aufregen, endlich konnte ich selbstwirksam zusammen mit anderen etwas tun.

Massi beim Ro1-Einsatz am 12. Juni 2021 in Dortmund

Zum Frühsommer hin wurde es jedoch auch immer anstrengender. Ich war in immer mehr Projekten eingebunden und habe immer mehr gemacht. Zusammen mit meiner Bezugsgruppe, die ich in dem Zeitraum kennengelernt habe (ganz liebe Grüße gehen raus an die Dach-Bezugsgruppe), war ich fast wöchentlich auf Aktionen, und meine Freizeit habe ich quasi nur dem Aktivismus gewidmet. Und obwohl mir schon quasi von Anfang an gesagt wurde, wie wichtig nachhaltiger Aktivismus und Regeneration ist, habe ich das kaum erlebt oder gelebt. Ich habe mich und meinen Körper ausgebeutet, denn irgendwas muss ja gemacht werden. Ich kann ja nicht einfach nur zugucken - ich muss handeln. Mein Leid im hier und jetzt ist ja nichts verglichen mit dem, was viele jetzt schon an Leid erfahren und was in Zukunft immer schlimmer wird, wenn sich nichts ändert. Einem Teil von mir wurde auch ziemlich schnell klar, dass ich so nicht weiter machen kann und will – geändert habe ich aber trotzdem nichts. Denn überall gab es mehr zu tun als Leute. Überall haben sich andere ausgebeutet und überarbeitet, und ich wollte nicht untätig zusehen, wie andere sich kaputt arbeiten. Also habe ich mich weiter engagiert.

Massi bei der Besetzung des Brandenburger Tors, Berlin, 20. August 2021. Foto: © Stefan Müller.

Den Höhepunkt der persönlichen Belastung habe ich beim RiseUp erfahren, für das ich (wie auch viele andere) wirklich viel Zeit investiert hatte und wo ich persönlich auch viele Hoffnungen hatte, dass wir endlich wieder Massen auf die Straße bekommen, um zu zeigen, dass ein „Weiter-so“ keine Option ist. Also habe ich getan, was ich konnte, um das RiseUp zum Erfolg zu machen. An vielen Stellen waren zu wenige Leute für das, was wir uns vorgenommen hatten. Also habe ich versucht, so viel wie möglich aufzufangen. Ich habe mich komplett überarbeitet und Regeneration auf die Zeit nach dem RiseUp verschoben, denn jetzt musste ich ja alles tun, damit das RiseUp ein Erfolg wird. Es steht doch so viel auf dem Spiel, und wir müssen jetzt die Kurve kriegen, um noch mehr Leid zu verhindern. Die Erwartungshaltung (von mir selbst und von anderen) war enorm, und Scheitern war keine Option.

Also habe ich gearbeitet, gearbeitet und gearbeitet. Und von Tag zu Tag ging es mir schlechter. Die Baustellen wurden nicht weniger, aber die Kopfschmerzen dafür mehr. Meine Konzentration und die Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen, verschlechterten sich von Tag zu Tag. Und dann kam das RiseUp, wo die Belastung natürlich nicht weniger wurde, sondern eher mehr. Zusätzlich zu Planung und Koordination kamen jetzt noch Aktionen, Gesa-Support etc. Ich habe eigentlich nur noch funktioniert, und Schlaf wurde optional. Oft fühlte ich mich verloren und war verwirrt und habe mich nur von Meeting zu Meeting, von To-do zu To-do gehangelt. Aber aufhören kam nicht in Frage . Es musste ja weitergehen, vor allem, weil die ersten Tage und Aktionen nicht wirklich erfolgreich waren. Das ging so bis zum Donnerstag des RiseUps. Ich wollte zwar noch weiter planen und koordinieren, aber an diesem Tag hat mein Körper ganz eindeutig eine Grenze gezogen. Ich verfiel in einen Zustand, in dem ich psychisch unfähig war, weitere Entscheidungen zu treffen oder Verantwortung zu übernehmen. Alles mögliche stresste mich und versetzte mich in Panik. Alles war zu viel.

Massi im Lock On bei der Aktion „1,5 ° ist tot“ (5. März 2022, Marschallbrücke, Berlin). Foto: © Stefan Müller.

Im Nachhinein würde ich das ganze eindeutig als Panikattacke und kurz vor einem Nervenzusammenbruch sehen. Ich konnte einfach nicht mehr. Und zusätzlich dazu hatte ich chronische Kopfschmerzen. Nach dem RiseUp hatte ich erst mal eine Woche „Pause“ (in dem Sinne, dass ich nur meiner Lohnarbeit nachgegangen bin), die mehr als nötig und viel zu kurz war, um mich wirklich zu erholen und all die traurigen, fröhlichen, traumatischen, belastenden und ärgerlichen Erlebnisse zu verarbeiten und einzuordnen. Aber mehr als eine Woche konnte/wollte ich mir nicht geben, denn Ende August fing ja der Hungerstreik an, wo ich dringend gebraucht wurde, da wir mal wieder zu wenig Leute für zu viele Aufgaben waren. Außerdem waren gute Freund:innen von mir beim Hungerstreik, und ich wollte sie nicht im Stich lassen. Also habe ich weitergemacht.

Der Hungerstreik war auf verschiedene Art und Weise sehr anstrengend: Einerseits gab es einfach unglaublich viel zu tun. Ich habe in der ersten Woche über 80 Stunden gearbeitet, ohne jemals wirklich zur Ruhe zu kommen, weil immer irgendwas anstand, worum ich mich kümmern musste/wollte. Andererseits ist so ein Hungerstreik auch emotional sehr belastend. Vor allem, wenn Menschen, die einem sehr am Herzen liegen, körperlich und psychisch leiden und absolut am Limit sind. Das Ganze über vier Wochen durchzuziehen, war auf jeden Fall ungesund für mich, und ich habe nochmal sehr stark gemerkt, dass es mit mir und meinem Aktivismus so nicht weitergehen kann. Auch während des Hungerstreiks wurde viel über Regeneration geredet, und viele Leute haben mich unterstützt und mich gebeten/dazu gedrängt, mal Pause zu machen. Aber regenerative Kultur war das auch nicht.

Die folgenden Monate machte ich weiter mit Aktivismus, zwar weniger, aber immer noch zu viel. Ich hatte mir schon im August vorgenommen, dass ich im Januar 2022 länger pausieren werde. Die Zeit für Regeneration habe ich also mal wieder effektiv auf später verschoben. Jedoch wurde mir immer mehr klar, dass es so nicht weitergehen kann und dass sich etwas grundlegend an der Art, wie ich Aktivismus mache, ändern muss.

Besetzung des Brandenburger Tors am 20. August 2021 beim RiseUp in Berlin. Foto: © Sebastian Hoehn.

Anfang Januar nahm ich mir dann endlich für vier Wochen eine Auszeit. Und die war bitter nötig. Während dieser vier Wochen habe ich viel gelernt, darüber wie ich meinen Aktivismus in Zukunft gestalten will, und über mich selbst. Ich habe viel reflektiert und damit begonnen, Traumata aufzuarbeiten. Meine chronischen Kopfschmerzen bin ich auch losgeworden. Es war eine sehr schöne und wichtige Zeit für mich, und ich möchte mich sehr herzlich bei den Leuten bedanken, die das ermöglicht haben. Also danke an die Leute vom Projekt Zähne putzen und an die Kommune, die mich so liebevoll aufgenommen hat. Ich kann jedem und jeder nur empfehlen, sich auch mal eine Auszeit zu nehmen. Und am besten, bevor es euch schlecht geht. Pausen müssen wir uns nicht verdienen.

Ich könnte sehr viel darüber erzählen, was ich in dieser Zeit alles gelernt habe. Aber ich will mich hier auf ein paar wesentliche Punkte beschränken. Mir ist klargeworden, dass wir Aktivismus deutlich regenerativer gestalten müssen, und das aus vielen verschiedenen Gründen. Der erste und wichtigste für mich ist sicherlich, dass jeder Mensch wertvoll ist (ohne irgendwas dafür geleistet haben zu müssen) und es wert ist, beschützt und umsorgt zu werden. Wenn wir uns überarbeiten und selbst ausbeuten (wenn auch für einen guten Zweck), dann reproduzieren wir dadurch das Leistungs- und Ausbeutungsdenken des Kapitalismus, welches ich jedoch abschaffen will. Wie sollen wir eine Welt erschaffen, in der wir nicht ausbeuten und zerstören, wenn wir das im Kleinen bei uns selbst noch nicht einmal schaffen?

Gleichzeitig gibt es auch noch eine Reihe praktischer Gründe für regenerativen Aktivismus. Kurzfristig mag es hilfreich sein und uns „weiter bringen“, wenn wir uns überarbeiten, aber langfristig zerstört solches Verhalten nur uns und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Aktivismus ist kein Sprint. Wir werden nicht in 2 Jahren eine heile Welt erreichen können und müssen uns auf einen längeren (lebenslangen) Kampf einrichten. Ich habe auch viel zu oft gesehen, wie soziale Konflikte sich aufgebaut haben und entstanden sind, weil Menschen gestresst und gereizt waren, es keine Zeit gab, Soziales zu besprechen und zu klären und wir (als Bewegung) so sehr viele Menschen verloren haben. Wir brauchen ein regeneratives Miteinander und (sehr viel) Raum für Zwischenmenschliches, damit wir langfristig Veränderungen schaffen können.

Darum an alle, die es brauchen, der Appell: Achtet auf euch selbst, euren Körper, eure Psyche, euer Wohlbefinden und eure Mitmenschen. Ihr seid es wert, beschützt zu werden. Es ist nicht eure persönliche Verantwortung, die Klimakrise oder welches Problem auch immer zu stoppen, es ist nur eure Verantwortung, aktiv zu werden. Lasst uns alle gemeinsam eine bessere Welt schaffen, auf uns achten und wirklich regenerativen Aktivismus betreiben statt bloßer Lippenbekenntnisse.

Ich hoffe, dass ich mit diesem Text ein paar Menschen erreichen und berühren konnte und dass euch meine Erfahrungen weiterhelfen können.

Massi bei der Besetzung des Brandenburger Tors am 20. August 2021 beim RiseUp in Berlin. Foto: © Simon Scheurer.

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