Demokratie – ein absoluter Begriff?

Geschrieben von Judith Pape am 22.10.2019

Seit der Rebellion Wave Anfang Oktober werden wir immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob wir die Demokratie abschaffen wollen. Die Antwort ist schnell gegeben: Nein! Wir wollen die Demokratie restaurieren. Sie fit machen für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Und doch steckt in der Frage wesentlich mehr. In den kalten Berliner Nächten am großen Stern und auf dem zugigen Feld direkt neben Kanzlerinnenamt und Reichstagsgebäude hatte ich die Gelegenheit, über Demokratie nachzudenken und über die wahrscheinlich berechtigte Befürchtung, dass sie bedroht ist. Ich glaube, dass wir genau jetzt über Demokratie diskutieren müssen, wenn wir sie erhalten wollen. Und deshalb versuche ich, hier einen Beitrag zu dieser Debatte zu liefern.

Bestandsaufnahme

Als ich geboren wurde, im Juni 1988, betrug die CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre 353 ppm. Damit lag sie bereits leicht über einer bedeutsamen Schwelle, die der US-amerikanische Klimaforscher James Hansen später folgendermaßen beschrieb:

If humanity wishes to preserve a planet similar to that on which civilization developed and to which life on Earth is adapted… CO2 will need to be reduced… to at most 350 ppm“

Er war es auch, der sich wenige Tage nach meiner Geburt, am 23.6.1988, bemühte, die Gewissheit der Wissenschaft an den Ort zu tragen, an dem er die Lösung dieses potenziell fatalen Problems erwartete: den US-Senat. In einer historischen Anhörung bei brütender Sommerhitze und vor laufenden Kameras bezeugte er als Wissenschaftler, dass die damals bereits messbare globale Erwärmung mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit durch anthropogene Treibhausgasemissionen verursacht werde. Die Idee war klar: Wenn wir Menschen langsam und dennoch konsequent unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören, müsste die Überwindung dieser Entwicklung Gegenstand und Ziel staatlicher Steuerung werden.

31 Jahre später hat sich die Erde um 1°C, die Landmassen um 1,5°C erwärmt. Die Wälder in Deutschland kollabieren unter Hitze, Dürre und Käferbefall, und das Umweltbundesamt warnt vor Trinkwasserknappheit. Bei einer Bundespressekonferenz im Mai hören wir, dass wir trotz allem mit dem Klimaschutz auf einem guten Weg sind und dass es sicherlich genügen würde, wenn die Bürgerinnen und Bürger sich bald bewusster ernährten:

Die Diskussionen der vergangenen Wochen haben ja gezeigt, dass in der Bevölkerung ein hohes Bewusstsein für den Klimaschutz besteht. Deshalb wird es gar nicht zwingend notwendig sein, vonseiten der Politik, die die Rahmenbedingungen liefert, Vorschriften zu machen, sondern es wird wahrscheinlich auch schon ein verändertes Verhalten der Bevölkerung dazu führen, bei der Mobilität bewusster zu sein, vielleicht auch bei der Ernährung bewusster zu sein, dass Klimaschutzziele sich erreichen lassen“ -Regierungssprecherin Fietz am 29.5.19

Die Konzentration von CO2 hatte einen Monat zuvor – von der breiten Öffentlichkeit relativ unbemerkt – erstmals den Rekordwert* von 415 ppm überschritten.

Während das Problem der anthropogenen Erderhitzung und Übernutzung seit mindestens 30 Jahren politisch und gesellschaftlich diskutiert wird, hat sich im Lauf der Zeit der politische Ort geändert, an den es gesetzt wurde. Zu Beginn, in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde es als überparteiliches Verwaltungsproblem angesehen, mit dem Expert:innen sich grosso modo zu befassen hatten. Dann wurde es – vor allem in den USA – zu einem parteipolitischen Streitthema. In Deutschland hat es sich, dem neoliberalen Paradigma entsprechend, zu einer Frage der Individualverantwortung entwickelt. Die Bundesregierung will, das hören wir heute immer wieder, in die Freiheit des Individuums (und vor allem der Konzerne) nicht eingreifen. Sie fabuliert einerseits über die baldige umfassende Einsicht, Mündigkeit und Disziplin der Bürger:innen und erzählt andererseits die Mär vom unwilligen Kleinbürger, der zwar mehr Klimaschutz wolle, aber kaum bereit sei, neben einer Windkraftanlage zu wohnen.

Der Versuch, die Krise über direkte Zusammenarbeit von Expert:innen aus Wissenschaft, Verwaltung und Mandatsträger:innen der Politik direkt zu begegnen (wie es etwa beim Verbot von FCKW-Gasen gelungen war), kann im Jahr 2019 diesseits wie jenseits des Atlantiks als missglückt angesehen werden. Auch der Versuch einer deutschen Partei, sich zumindest halbherzig der Herausforderung der Transformation anzunehmen, endete im Debakel. Obwohl die Angst vor dem fortschreitenden Klimawandel inzwischen eine Mehrheit der Bevölkerung plagt, sind wirklich angemessene Maßnahmen in den Parteiprogrammen weiterhin erschreckend abwesend. Ist damit ‚die Demokratie‘ an der größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts gescheitert? Oder andersrum gefragt: Ist der Wunsch nach der Vermeidung des Worst-Case-Szenarios heute eine antidemokratische Bestrebung, solange in der Gesellschaft keine Mehrheit für dieses Unterfangen zu begeistern ist?

Demokratie restaurieren bedeutet Vertrauen restaurieren.

Besonders an Extinction Rebellion ist, dass wir kein Programm zur sozial-ökologischen Transformation vorlegen, sondern stattdessen einen Rahmen fordern, der diese Lösungen ausarbeiten soll und dem wir vertrauen: die Bürger:innenversammlung. Dort sollen zufällig ausgeloste Bürger:innen zusammen kommen und von transparent ausgewählten Expert:innen wissenschaftlich aufgeklärt werden. Auf dieser Basis können sie sachlich fundierte Maßnahmen zur Bewältigung der Klima- und ökologischen Krise erarbeiten, die einerseits der inzwischen nötigen Ambition gerecht werden und die andererseits ein hohes Vertrauen genießen. Wir glauben, dass diese Krise demokratisch lösbar ist und dass es nicht an Bereitschaft in der Gesellschaft mangelt, sondern schlicht an Vertrauen: Selbst wenn es bald eine Mehrheit im Bundestag gibt, die sich dem Ziel der Dekarbonisierung und dem Stopp des galoppierenden Biodiversitätsverlusts mit der angemessenen Ambition widmet, wird sie die Opposition eines großen Segments der Bevölkerung auf sich ziehen. Denn die von ihr beschlossenen Maßnahmen würden unweigerliche alle betreffen, obwohl sich nur ein Teil der Wählenden ausdrücklich für diesen Kurswechsel ausgesprochen hat. Bürger:innenversammlungen funktionieren, anders als Parteien, nicht nach dem Prinzip konkurrierender Partikularinteressen. Über eine geschichtete Zufallsauswahl erfüllen sie von Anfang an den Anspruch, die Bevölkerung im Gesamten zu repräsentieren. Auch die Aufklärung durch Expert:innen hat nicht zum Ziel, bestimmte Blickwinkel politisch auszuschließen, sondern sie orientiert sich am Ideal, eine 360°-Perspektive auf das Problem herzustellen. Die Inputs der Expert:innen würden im Sinne der Transparenz öffentlich einsehbar gemacht (per Livestream z.B.) und so auch über die Zusammenkunft der Bürger:innenversammlung hinaus zur Versachlichung der öffentlichen Debatte beitragen.

Gemeinschaft statt Konfrontation

Die Idee einer informierten, beratschlagenden Partizipation von gelosten Bürgerinnen und Bürgern, die sich nicht hauptberuflich, sondern ehrenamtlich und zeitlich befristet zentralen politischen Fragen widmen, ist alles andere als neu. Im religiös polarisierten Irland half sie, eine Befriedung im festgefahrenen Streit um die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu erwirken. Und vor wenigen Jahren kam auch das Umweltbundesamt auf die Idee, dass dieses Format geeignet sein könnte, unsere Demokratie zu stärken und zugleich die politische Stagnation in der sozial-ökologischen Transformation zu überwinden. Mir gefällt dieser Zugang, weil er der uns bekannten, häufig auf Durchsetzungsfähigkeit und Konfrontation beruhenden politischen Debatte einen anderen Modus gegenüberstellt: Der Beratschlagungsprozess – in der Fachsprache auch Deliberation genannt – schafft, wenn er professionell moderiert wird, eine Atmosphäre der Gemeinschaft und der Inklusion. Er bestärkt leise Stimmen und er erkennt die Pluralität von Perspektiven als etwas Gewinnbringendes an. Er nimmt sich Raum für die Komplexität der Herausforderung und springt nicht direkt von der Problemaufklärung zur Frage nach Lösungen und Maßnahmen, sondern fragt zunächst nach normativen und strukturellen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die zu entwickelnden Maßnahmen von allen mitgetragen werden können. Häufig werden sich Beteiligte, die aus unterschiedlichen politischen Milieus in den Prozess gekommen sind, hier bereits einig. Wer sich die Ergebnisse vergangener Bürger:innenversammlungen anschaut, stellt fest, dass sich Kollektive unter gewissen Rahmenbedingungen meist für Gemeinwohl aussprechen. In der Konsequenz sind häufig auch die Menschen, die nicht an der Deliberation beteiligt waren, bereit, im Sinne der Fairness selbst Einbußen in Kauf zu nehmen. Eine professionell, unabhängig und transparent durchgeführte Bürger:innenversammlung befördert eine im politischen Alltag beinah vergessene Form des Miteinanderseins und des Füreinanderseins. Der ultimative Realitätscheck für die Mär vom inhärent widerspenstigen und unbelehrbaren Kleinbürger.

Das Parlament entmachten?

Dass wir eine Bürger:innenversammlung fordern, hat weniger mit Macht und mehr mit Eignung zu tun. Natürlich erkennt Extinction Rebellion die Organe unserer repräsentativen Demokratie ebenso wie das Prinzip der Gewaltenteilung an. Aber als Gesellschaft wären wir blöd, wenn wir die dekadenlange Stagnation schlicht als Preis der Demokratie verbuchen würden, ohne einmal genauer hinzusehen. Es erscheint mir wenig sinnvoll, Demokratie einfach als einen absoluten Zustand anzunehmen, der ist oder nicht ist. Vielmehr kennen wir verschiedene Grade und Grenzen von Demokratie in verschiedenen Gesellschaften und Spielarten. Deshalb halte ich es für konstruktiver, festzustellen, dass es konkrete Eigenschaften der tatsächlichen Verwirklichung unserer repräsentativen Demokratie sind, die eine sozial-ökologische Wende hemmen: Zum Beispiel erschweren relativ kurze Legislaturperioden die konsequente Bearbeitung längerfristiger Probleme. Zugleich wirken Verbände und Wirtschaftsvertreter:innen in undemokratischen und intransparenten Prozessen auf die Mandatsträger:innen ein, während eine Anhörung der Wissenschaft viel zu kurz kommt.

Auch der Bürger:innenversammlung sind Grenzen gesetzt. Sie kommt über einen begrenzten Zeitraum in einem relativ vorstrukturierten Rahmen zusammen, um zu einer vorab bestimmten Frage zu deliberieren. Damit kann sie nur reaktiv und punktuell auf den demokratischen Prozess einwirken, weshalb sie kaum geeignet wäre, die tragende, umfassende und kontinuierliche Funktion eines Parlaments zu ersetzen. Deshalb begreifen wir die Bürger:innenversammlung nicht als einen Ersatz, sondern als Hilfestellung für das Parlament. Wir fordern, dass die Bundesregierung selbst eine solche einberuft und damit die Hilfe anerkennt, die die Arbeit der Bürger:innenversammlung für Regierung und Parlament bedeuten würde. Die Ergebnisse der Bürger:innenversammlung, ein Katalog von Maßnahmen, soll dann zur Debatte im Parlament vorgelegt und möglichst umfassend in Gesetze und Leitlinien eingearbeitet werden.

In jedem Fall werden wir uns nicht länger mit der Mahnung zur Geduld abfertigen lassen, weil Demokratie nunmal Zeit bräuchte. In schwieriger werdenden Zeiten können wir die Demokratie nicht retten, wenn wir uns nur schamhaft von den Mängeln ihrer konkreten Ausgestaltung abwenden und abwarten. Wir wissen, dass die Herausforderungen und Zumutungen der Klima- und ökologischen Krise nur größer werden, je später wir damit beginnen, sie anzugehen. Und das gefährdet nicht zuletzt auch die Demokratie. Im 21. Jahrhundert, schrieb Bernd Ulrich kürzlich in der Zeit, müssten wir noch lernen, „wie man die Zerstörung der Demokratie durch das Verschwinden der tatsächlich vorhandenen Wahlmöglichkeiten verhindert“. In diesem Sinne: Bis bald auf der Straße.


*zuletzt war eine so hohe Konzentration von CO2 vor 2-5 Mio. Jahren in der Erdatmosphäre vorhanden. Damals korrelierte sie mit 3-4°C mehr Durchschnittstemperatur und einem 10-20m höheren Meeresspiegel. Zum Vergleich: Den homo sapiens gibt es seit ca. 300 000 Jahren.

Feedback