Gedanken zur XR-Herbstrebellion: Der Montag
Als ich zum Potsdamer Platz komme, steht die Blockade bereits. Mein erster Eindruck: Mehr Polizei als Aktivist:innen.
Ein rosa Bohrturm aus Holz ragt aus der Menge. Auf seiner Plattform haben sich Personen fixiert. XR-Fahnen und -Banner ringsum.
Heftiger Regen setzt ein und wird immer heftiger. Ein paar Wärmedecken habe ich mitgebracht und verteile sie an Menschen, die auf dem Boden kauern.
Drei Jahre war ich nicht mehr bei einer Aktion vor Ort, habe ich nur im Hintergrund unterstützt. Die Lieder, denke ich gleich, haben sich seit meinem letzten Mal nicht verändert.
Laut dpa sind es 50 bis 60 Menschen, die sich heute hier der Klimakatastrophe entgegenstellen. Was für ein Unterschied zu meinem letzten Mal, als wir auch am Potsdamer Platz waren, viele Hunderte. An der Siegessäule sogar tausende.
Wo sind die Menschen von damals heute?
Die Polizei verliert keine Zeit. Im Zwei-Minuten-Takt werden die Ansagen durchgegeben, wonach der Platz zu verlassen sei. Nach der dritten Ansage beginnt die Räumung.
So eine Aktion, denke ich, müsste es nicht einmal im Jahr für zwei Stunden geben, sondern jeden Tag. Es dürfte nicht eine Kreuzung sein, es müssten alle wichtigen Verkehrsknotenpunkte in der Republik sein. Es dürften nicht nur 50 Menschen sein, es müssten 5 Millionen sein. Wo sind sie alle?
Einige Aktivist:innen sind völlig durchgeweicht. Zitternd und schlotternd geben sie der Polizei ihre Personalien an, nachdem sie weggetragen wurden.
Vor drei Jahren gingen der Herbstrebellion Wochen an Mobilisierung voran, vor allem durch Klima-Talks. Auch ich habe damals welche organisiert und gehalten. Die größte Aufgabe bestand damals darin, den Menschen vor Augen zu führen, wie ernst die Situation ist, dass sie Ergebnis menschlichen Verhaltens ist und darum auch verändert werden kann und muss.
Nun - drei Jahre später - haben Klimaaktivist:innen eins der wichtigsten Ziele von damals erreicht: Heute leugnen im Wesentlichen nur noch zwei Gruppen den menschengemachten Klimawandel:
- Die, die davon profitieren (und sie tun es nur öffentlich, wissen allerdings Bescheid und nehmen es für ihre Erträge billigend in Kauf). Sie sind die Gewinner des fossilen Kapitalismus, und eher denken sie an die Ölförderung in einem eisfreien Grönland als an eine andere Wirtschaftsweise oder Energiegewinnung.
- Die, die sich krampfhaft an einen Lebensstil klammern, der ihnen Sicherheit und Identität gibt, den aufzugeben ihnen Angst macht und auf den zu verzichten ihnen die Phantasie fehlt. Sie sind von bürgerlich-konservativen und faschistischen Medien weitgehend gegen jede Einsicht in die Notwendigkeit immunisiert.
Ansonsten scheint kein Dissens mehr zu bestehen. Der Klimawandel gilt gesamtgesellschaftlich als Fakt. Auch dass er Resultat unserer Wirtschafts- und Lebensweise ist, ist überhaupt nicht strittig. Hätten wir uns das vor drei Jahren vorstellen können? Ich nicht.
Allerdings hätte ich mir auch nicht vorstellen können, was daraus folgte. Nämlich nicht, wie ich dachte, ein Zulauf zu allen Klimagruppen, ob Fridays for Future, Ende Gelände, Fossil Free, German Zero oder Extinction Rebellion. Nämlich nicht ein massenhafter Druck von der Straße, der letztlich die Politik zum Handeln zwingt. Nämlich nicht eine Kette von Aktionen, die die Weiterführung fossiler Wirtschaftsformen kostspieliger macht als ihre Transformation.
Wenn ich mich im Bekanntenkreis umhöre, herrscht Lähmung vor. Es hat sich die Vorstellung durchgesetzt, man könne eh nichts mehr ändern. Der Klimawandel ist zum festen Bestandteil der öffentlichen Wahrnehmung geworden, aber anders, als wir wollten. Überall spüre ich Fatalismus. Wir ziehen den Kopf ein und fragen uns, welche Katastrophe sich als nächstes ereignet. Ist es die nächste Dürre? Das nächste Hochwasser? Die nächste Pandemie? Der nächste Krieg? Oder etwas ganz anderes? Wir spüren instinktiv, dass das Thema zu komplex für eine Vorhersage ist. Es kann uns jederzeit treffen, und in welcher Form lässt sich nicht absehen. Und das macht eine Scheißangst. Und die lähmt.
Eine junge Frau, die ich seit ihrer Grundschulzeit kenne, traf ich neulich als Verkäuferin in einer Bäckerei wieder. Sie fragte mich, ob ich noch bei Extinction Rebellion aktiv sei. Ich bejahte. Sie sagte: „Wenigstens machen noch ein paar Menschen was. Ich tue nichts, aber Kinder setze ich auch nicht in diese Welt.“
Menschen resignieren. Es scheint alles vergeblich und der Untergang unserer Zivilisation festzustehen. Dahinter steckt auch, dass sich die Ansicht durchgesetzt hat, dass die globale Erhitzung entweder stattfindet oder nicht. Wie ein An-/Aus-Schalter. Und jetzt findet sie eben statt und lässt sich nicht mehr aufhalten. Vielleicht hat das 1,5°-Ziel zu dieser Auffassung beigetragen. Wir wissen, wir können diese Grenze kaum mehr einhalten, und jenseits dieser Marke scheint alles verloren. Dass es sich lohnt, für jedes Zehntel Grad zu kämpfen, um das sich die Erde nicht erwärmt, bildet sich im öffentlichen Bewusstsein kaum ab. In dieser Schockstarre ist unglaublich viel Energie gebunden. Doch wie kann sie frei werden oder wieder frei werden? Was kann sie lösen? Niemand wird gerne und freiwillig depressiv.
Die Frage beschäftigt gerade nicht nur mich. Während ich diese Zeilen tippe, stellen sich Aktivist:innen von heute nebenan die gleichen Fragen, diskutieren und ringen um Antworten. Wo sind sie alle: Die jungen Eltern, die natürlich in ihren Alltag eingespannt sind, aber doch diejenigen sind, denen das Thema am meisten am Herzen liegen müsste? Und wo sind die Hobby-Imker oder Kleingärtner? Wo sind die Vogelbeobachter oder Alpinisten? Wo sind die Angler oder die Wintersportler, die Taucher oder Wanderer? Wo sind all die anderen, die gerade in dem Bereich, den sie lieben, tagtäglich spüren, was Klimakrise bedeutet und zunehmend bedeuten wird? Und wo sind vor allem die ehemaligen Mitstreiter:innen, die vor drei Jahren noch dabei waren? Sind sie woanders aktiv oder haben sie aufgegeben? Von einigen weiß ich, dass sie sich anderen Themen zugewandt haben. Fühlen sie sich nicht mehr bedroht von der Klimakrise? Von anderen, dass sie wie versteinert sind, hoffnungslos.
Der Regen hatte aufgehört, die Polizei die letzten Aktivist:innen in Gewahrsam genommen und dann den Bohrturm mit einem Bagger umgestoßen. Ich würde mir wünschen, sie würden das auch mit echten Bohrtürmen tun.
Ich entfernte mich vom Aktionsort. Nur zwei Gehminuten weiter war nichts von der Aktion zu spüren und nichts von der Klimakrise. Hier herrschte wieder die Welt von Zara und H&M. Business as usual, das unsere Lebensgrundlage zerstört.
Kenne ich dieses Gefühl von Verzweiflung? Nur zu gut. Und ich kenne die Versuchung, ihm nachzugeben. Warum tue ich es nicht? Ich tue es ja manchmal. Doch immer, kurz bevor es ganz dunkel und stumpf in mir wird, regt sich ein Trotzgefühl, und ich frage mich, wer eigentlich am meisten von meiner, von unserer Resignation profitiert? Dann zeichnet sich ein anderes Bild ab:
Wir haben die öffentliche Wahrnehmung der Klimakrise in den letzten Jahren verändert. Es hat sich für Shell oder Exxon nicht mehr gelohnt, weiter Geld in die Leugnung zu investieren. Dieses Terrain haben sie unwiderruflich verloren. Doch Fatalismus ist für die Klimakrisengewinnler so praktisch wie Leugnung. Während wir aufgeben, schreiben sie Gewinne. Daraus, dass wir einbrechen, schlagen sie Kapital. Und mit ihnen ihre Büttel in der Politik.
Vielleicht waren wir zu naiv, als wir dachten, es genüge, die wissenschaftlichen Prognosen ernst zu nehmen. Vielleicht haben wir unsere Gegner unterschätzt. Doch kann es nicht sein, dass wir Opfer unseres eigenen Erfolges geworden sind, den unsere Widersacher, das muss man eingestehen, gekonnt pariert haben?
Dann wäre die Frage: Was können wir tun, um die Starre zu lösen? Wie lässt sich die Energie, die in dieser Resignation steckt, freisetzen? Wodurch könnten Menschen wieder glauben, dass sie mehr zu gewinnen als zu verlieren haben? Um endlich einen Zustand zu beenden, in dem wenige Profit schöpfen aus dem Unglück vieler.