Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende. Nicht nur auf politischer Ebene (Bundestagswahl, COP26 in Glasgow), nicht nur bei Extinction Rebellion (dezentrale Rebellionswelle, Rebellion of One, RiseUp, Gerechtigkeit Jetzt), sondern auch bei mir selber.
Anfang des Jahres hatte ich noch viel auf deutschlandweiter Ebene mitgeholfen (AGs auf Mattermost), dann bin ich zum Sommer wieder mehr aktiv in der Ortsgruppe gewesen und zum Ende des Jahres auf beiden Ebenen.
Bei alldem ging mir immer wieder ein Wort durch den Kopf: Beziehung.
Damit meine ich nicht gleich eine tiefgehende, persönliche Freundschaft (oder Partnerbeziehung oder Eltern-Kind-Beziehung), sondern bereits das, was zwischen zwei (oder auch mehreren) Menschen entstehen kann, die gemeinsam an etwas arbeiten und die zusammen an einem Strang ziehen.
Das Wort ‘kann’ ist hier sehr wichtig. Es ist nämlich möglich, recht beziehungslos oder gar eher egoistisch zusammenzuarbeiten. Und selbst wenn Beziehung entsteht, so muss diese auch gepflegt werden, ansonsten geht sie sehr schnell wieder verloren. In der Psychologie (sowie der Sozialarbeit) nennt man dies ‘Beziehungsarbeit’. Es ist nämlich richtige - manchmal harte - Arbeit. Zum Beispiel, wenn es Konflikte gibt.
Gut im Umgang mit Konflikten war XR Deutschland ja noch nie. :) Zumindest im durchschnittlichen Mittel meiner Wahrnehmung. Konfliktbegleitung und Mediation werden meiner Meinung nach weiterhin zu wenig genutzt (trotz entsprechender XR-interner Angebote).
Dafür gibt es viele verschiedene Gründe, aber einer davon ist der Mangel an echten Beziehungen, bzw. der Mangel an Interesse an echten Beziehungen.
Gerade auf deutschlandweiter Ebene (auf Mattermost) ist oft mein Gefühl, dass es dort fast nur die zwei Extreme gibt. Entweder großes Interesse an Beziehung und damit einhergehend sehr gute Konfliktklärungen, langjährige Verbindungen und persönliche Netzwerke. Oder so gut wie kein Interesse an Beziehung und damit einhergehend explosionsartige Streitigkeiten, komplette Ablehnung von Konfliktbegleitung und verbrannte Erde.
Auf Ortsgruppen-Ebene habe ich da mehr Graustufen zwischen diesen beiden Extremen erlebt. Trotzdem gibt es auch dort Desinteresse an echten Beziehungen. Dies liegt teilweise am manchmal etwas egoistischen Selbstwirksamkeits-Denken, das durch den Druck der Klimakrise ausgelöst wird: “Ich will Aktionen machen” oder “Ich muss unbedingt etwas tun”.
Dabei braucht man die anderen Menschen dann eigentlich nur, um Aktionen durchführen zu können. Mit wem genau man diese Aktionen macht, ob das oft wechselt, ist alles recht unwichtig. Die Aktion steht über allem.
Auch Zeit-Kapazitäten sind oft ein Grund für Desinteresse an Beziehung. Hierbei wird sich - meiner Meinung nach - oft schlecht selbst eingeschätzt. Das Gefühl etwas tun zu wollen ist sehr stark und die Realität der eigenen, niedrigen Kapazitäten wird nicht bedacht.
Gute, langfristige Beziehungen brauchen Zeit und Investition. Sie lohnen sich aber sehr. Denn, dass so viele Menschen nur kurz bei XR sind, hat - meiner Meinung nach - vor allem mit dem Mangel an echten Beziehungen zu tun.
- Wenn mich mein Alltag und meine Realität an niedrigen Kapazitäten einholt, braucht es eine echte Beziehung, die mich trotzdem auf dem Laufenden hält und mal fragt: “Na? Wie geht’s dir? Hab’ dich lange nicht gesehen. Soll ich dich auf dem Laufenden halten?” oder “Na? Viel bei dir los, hab’ dich lange nicht gesehen. Vielleicht schaffst du es zu unserem XY in 2 Monaten?”
- Wenn ich enttäuscht bin von XR, weil es mir zu langsam geht oder weil es mich so begeistert hatte und mein neuer Lebens-Sinn geworden war und jetzt doch anders ist als gedacht; braucht es echte Beziehungen, mit denen ich mich offen und persönlich darüber austauschen kann und die mir mit ihrer Sicht neue Perspektiven aufzeigen können, während ich gewiss sein kann, dass diese Beziehungen auch bei einer angepassten Sicht auf den Aktivismus bestehen bleiben. Das ‘wir’ kann es auch durch Veränderung hindurch weiter geben.
- Wenn ich einen Konflikt mit einer anderen Person bei XR habe, braucht es echte Beziehung, die mich motiviert dran zu bleiben und zu versuchen, den/die Andere zu hören / zu verstehen und zu einer Klärung zu kommen. Es braucht echte Beziehungen, die mich ermutigen eine Konfliktbegleitung anzufragen oder die helfen den Konflikt zu reflektieren (weil ich mich bei ihnen öffnen kann).
- Wenn ich von Dominanz oder Macht überrollt oder frustriert wurde, braucht es echte Beziehung, die sicherstellt, dass die/der Andere mir zuhört und bereit ist sich selber zu hinterfragen. Und es braucht echte Beziehungen, die mir den Rücken stärken, damit ich mich traue das Problem oder den Konflikt anzusprechen.
Für die Vision unserer 10 Werte braucht es echte Beziehungen. Daher steht das Wort ‘Beziehung’ auch auffällig oft in den Texten zu unseren 10 Werten & Prinzipien.
Ein die Welt verändernder Aktivismus kann nur langfristig funktionieren, wenn er zu allererst auf guten Beziehungen aufgebaut ist. Meiner Meinung nach muss alles andere dahinter stehen.
Der innere Druck, die Welt zu retten, ist oft so groß, dass dabei (ganz im Stil der Superhelden-Medien) vergessen wird, dass es nichts bringt eine Welt gerettet zu haben, die dann ohne Beziehungen dasteht und voller ausgebrannter Menschen ist. Seitdem wir die 1-Grad-Marke an Erwärmung schon vor Jahren überschritten haben, ist klar, dass die Welt vor vielen Herausforderungen stehen wird. Ganz egal, was wir an weiterer Erwärmung verhindern werden.
Wir brauchen nachhaltigen, regenerativen Aktivismus. Daher ist es an der Zeit sich der Realität einer sich stark verändernden Welt zu stellen. Und diese braucht vor allem gute, langfristige Beziehungen, da diese die Basis für jegliche Weltenrettung sind. Build better relationships - now! :)