Planetary Health - Wenn Widerstand zur Pflicht wird

Geschrieben von Clara Dilger, Dagmar Engels und Maria-Inti Metzendorf am 06.04.2021


Morgen, am 7. April, ist Weltgesundheitstag. Dies nehmen wir zum Anlass, uns zu fragen, warum auch für Menschen im Gesundheitssystem ziviler Ungehorsam zur unausweichlichen Konsequenz einer jahrzehntelangen Untätigkeit der Politik geworden ist.

Die menschliche Gesundheit kann nicht isoliert von Umwelteinflüssen betrachtet werden, denn das Weltklima und die Stabilität der Ökosysteme hat entscheidenden Einfluss auf unsere Gesundheit.

Für welche Ziele lohnt es sich, friedlichen Widerstand zu leisten? Unter welchen Bedingungen kann es notwendig werden, Gesetze zu brechen? Wann wird Widerstand zur Pflicht?

Clara Dilger, Dagmar Engels und Maria-Inti Metzendorf haben sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt.

Sebastian Stoehr

Blockade des Deutschen Bundestags, Berlin, Rebellion Wave, 7. Oktober 2020


Wenn Sie über die Klimakatastrophe, den ökologischen Kollaps und die von der Wissenschaft prognostizierten Auswirkungen auf die Menschheit besorgt sind, gibt es erdrückend viele Belege dafür, dass Sie mit Ihrer Sorge richtig liegen. Die Politik unternimmt seit Jahren nicht die notwendigen Schritte, um diese uns existenziell bedrohende Krise in den Griff zu kriegen. Gibt es eine andere Wahl für die Menschen, als friedlich zu rebellieren?



Wer schon einmal eine Straßenblockade von Extinction Rebellion gesehen hat, könnte den Eindruck gewinnen, dass ziviler Ungehorsam eine spaßige Angelegenheit ist: bunte Fahnen, gemeinsames Singen, Stimmung wie bei einem Straßenfest. Doch die Annahme, dass wir zum Spaß den Verkehr lahmlegen, Lobbybüros besetzen oder Parteizentralen blockieren, geht weit an der Realität vorbei.

Denn was bei den bunten und kreativen Aktionen nicht immer sofort sichtbar wird, das ist die existenzielle Bedrohung, die uns auf die Straße treibt. Schaut man genauer hin und unterhält sich mit den Bürger:innen, die friedlich in einer Blockade sitzen, sieht man die Sorge der Eltern um die Zukunft ihrer Kinder, erfährt man von der Angst der Schüler:innen vor dem, was auf sie zukommen wird, und spürt die Verzweiflung derjenigen, die seit Jahrzehnten für den Erhalt einer Zukunft kämpfen, die schon fast verloren scheint.

In diesem Beitrag wird es darum gehen, warum und unter welchen Bedingungen das Brechen von Gesetzen manchmal notwendig und mittlerweile sogar zur unausweichlichen Konsequenz in Anbetracht einer jahrzehntelangen Untätigkeit der Politik geworden ist. Denn erst wenn das Ignorieren von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Alarmsignalen ein Ende hat, können wir noch auf eine Zukunft hoffen, die nicht von Katastrophen, Krieg und Chaos geprägt ist, sondern im besten Fall sogar gerechter und friedlicher ist, als wir es uns heute vorstellen können.

Aus heutiger Sicht scheint es vollkommen unverständlich, wie es überhaupt erst so weit kommen konnte: Seit mehr als fünf Jahrzehnten warnt die Wissenschaft mit zunehmend verzweifelter Dringlichkeit vor den Folgen unseres zerstörerischen Umgangs mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen. Doch allen Warnrufen zum Trotz wird weiter gerodet, gebaggert, verbrannt und zerstört. Der Ausstoß von Treibhausgasen steigt seit der Entdeckung des Treibhauseffekts stetig an und das Massenaussterben kostet uns jeden einzelnen Tag über 100 Tier- und Pflanzenarten. Dabei fällt die Zerstörung natürlicher Lebensräume schon jetzt unmittelbar auf uns zurück, wie die aktuelle Pandemie deutlich zeigt.

Während der letzten 50 Jahre gab es auf der ganzen Welt Menschen, die sich der Zerstörung in den Weg gestellt haben, die demonstriert und gestreikt haben, die ihre Zeit, ihre Freiheit oder sogar ihr Leben für den Versuch gegeben haben, die immer schneller werdende Fahrt in den Abgrund aufzuhalten. Die „Argumente“, mit denen die Rufe nach Klima- und Umweltschutz gekontert wurden und werden, sind ebenso vielfältig wie abwegig: Aber "die Arbeitsplätze", aber "die Industrie", aber "die anderen Länder machen ja auch nichts". Je länger solche Pseudo-Argumente vorgaukeln, es gäbe auf einem toten Planeten noch Arbeitsplätze oder gar Industrie, desto geringer werden die Chancen, den endgültigen Kollaps der Ökosysteme und damit wahrscheinlich auch unserer Zivilisation noch verhindern zu können. [1]

Deshalb ist jetzt der Zeitpunkt für das Betätigen der Notbremse. Dies erkennen immer mehr Menschen, ob in der Wissenschaft, den Medien oder in der Zivilgesellschaft. Und auch in den medizinischen Berufen wird der Ruf nach Widerstand lauter. Denn die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ist nicht nur eine ökologische und humanitäre Katastrophe, sondern auch eine massive Bedrohung unserer Gesundheit.

Wie Umweltmediziner:innen schon lange wissen, kann die menschliche Gesundheit nicht losgelöst von den Einflüssen unserer Umgebung betrachtet werden. In den letzten Jahren ist zudem immer deutlicher geworden, dass auch das Weltklima und die Stabilität der Ökosysteme eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit spielen. Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf die planetare Umwelt erfordern eine ganzheitliche und interdisziplinäre Betrachtung der Gesundheit. Denn die globalen Veränderungen haben bedeutsame Auswirkungen auf unser Verständnis von Prävention, Krankheit, Therapie und Epidemiologie. [2] Unter dem Begriff Planetary Health oder „planetare Gesundheit“ wird untersucht, in welchem Zusammenhang der Zustand unseres Planeten mit unserer Gesundheit steht. [3] So steht zum Beispiel der Ursprung der SARS-CoV-2 Pandemie – die zum aktuellen Zeitpunkt global mindestens 2,5 Mio. Menschen das Leben gekostet hat – in direktem Zusammenhang mit dem Einfluss der ökologischen Krise und der Klimaveränderung auf die Lebensräume von Wildtieren. [4]


Das Wissen um die Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung und Gesundheit hat Mediziner:innen auf der ganzen Welt zu einer weiteren alarmierenden Stimme aus der Wissenschaft gemacht. Bereits im Jahr 2009 warnte die Weltgesundheitsorganisation davor, dass die Klimakrise einen gefährlichen Einfluss auf die fundamentalen Grundlagen unserer Gesundheit wie Luft, Wasser, Lebensmittel, Lebensraum und Krankheiten hat. [5] Doch auch diese düsteren Vorhersagen aus der Medizin wurden (zusammen mit tonnenweise Feinstaub) in den Wind geschlagen. Diese Situation, in der nicht nur wissenschaftliche Warnungen, sondern auch Hilferufe anderer Länder und versinkender Inselstaaten ignoriert werden, bringt uns zur zentralen Frage dieses Beitrags:

Wann wird Widerstand zur Pflicht?

Die renommierte medizinische Fachzeitschrift The Lancet widmete dem Thema „Ärzt:innen und ziviler Ungehorsam“ im Januar 2020 einen Teil ihrer Ausgabe. [6] In einem der Beiträge haben Ärzt:innen aus Neuseeland fünf Kriterien entwickelt, nach denen Angehörige der Gesundheitsberufe zivilen Ungehorsam für sich als vertretbar einschätzen können:

1.

Es gibt evidenzbasierte Gründe für die Annahme, dass eine Politik, ein Gesetz oder ein Zustand signifikant ungerecht sind. Das heißt, dass eine Politik, ein Gesetz oder ein Zustand in einem solchen Ausmaß ungerecht ist, dass ziviler Ungehorsam eine verhältnismäßige Handlung darstellt.

2.

Ziviler Ungehorsam ist der letzte Ausweg oder alle verbleibenden politischen oder rechtlichen Wege sind wahrscheinlich erfolglos oder könnten zu vermeidbarem Schaden führen.

3.

Es besteht eine begründete Chance, dass die Aktion des zivilen Ungehorsams wirksam ist und dass die Wirksamkeit die möglichen negativen Folgen überwiegt.

4.

Die am wenigsten schädliche Form des zivilen Ungehorsams sollte gewählt werden; friedliche und informative Aktionen sollten gegenüber Aktionen bevorzugt werden, die Zwang ausüben oder Ungleichheiten verstärken.

5.

Die Verpflichtung zur Teilnahme an zivilem Ungehorsam ist für diejenigen Angehörige der Gesundheitsberufe größer, die durch ihren persönlichen, beruflichen und gesellschaftspolitischen Stand einem geringeren Risiko ausgesetzt sind, durch solche Aktionen erheblichen Schaden zu nehmen. [7]

Die Autor:innen halten die ersten beiden Kriterien angesichts der Klimakatastrophe für erfüllt: Sie argumentieren, dass die Reichen und Mächtigen noch immer vom Raubbau an den Lebensgrundlagen profitieren, während für die Menschen im globalen Süden die Bedrohung ihrer Existenz schon längst Realität ist. Angesichts dieser Ungerechtigkeit wurden viele verschiedene Wege ausprobiert, um die neuseeländische Regierung zum Handeln zu bewegen, die jedoch weiterhin keine geeigneten Maßnahmen ergreift. Daraus schließen die Autor:innen, dass ziviler Ungehorsam als letzter Ausweg ein legitimes Mittel sei. Die nächsten beiden Kriterien hängen von der Wirksamkeit und Gewaltfreiheit der Aktion zivilen Ungehorsams ab, wobei die Autor:innen betonen, dass Angehörige der Gesundheitsberufe die Wirksamkeit von Aktionen erhöhen können, indem sie zur Glaubhaftigkeit und Ernsthaftigkeit beitragen. Auch betonen sie mit dem letzten Kriterium, dass Menschen, die voraussichtlich ein geringeres persönliches Risiko durch Aktionen zivilen Ungehorsams haben, eine umso höhere Verpflichtung haben, sich diesen anzuschließen.

Sie schließen ihren Artikel damit, dass sie nicht für oder wider zivilen Ungehorsam argumentieren möchten, sondern ihn als legitime Möglichkeit in einem Spektrum von Handlungen sehen, die Angehörige der Gesundheitsberufe ergreifen können. Die Teilnahme an zivilem Ungehorsam solle von Fall zu Fall entschieden werden.

Was folgt daraus?

Der Schritt in den zivilen Ungehorsam, sei es bei einer Straßenblockade, einer Waldbesetzung oder beim Anketten an Kohlebagger, sollte in der Tat abgewogen werden. Es gibt viele persönliche Gründe, auf zivilen Ungehorsam zu verzichten, nicht für jede:n kommt es in Frage, polizeiliche und staatliche Repressionen in Kauf zu nehmen. Und nicht jede Aktion zivilen Ungehorsams ist gleichsam geeignet, die Ziele zu erfüllen, für die diese Repressionen in Kauf genommen werden.

Doch bei einer solchen Abwägung sollte auch immer klar sein, worum es geht und wofür sich Widerstand lohnt. Es geht darum, dass wir auch in Zukunft noch Wasser und Nahrungsmittel haben wollen, weil wir sie zum Überleben brauchen. Es geht darum, die Menschen zu schützen, die schon jetzt existenziell bedroht sind. Es geht darum, einen ökologischen Kollaps zu verhindern, dessen Folgen wir kaum abschätzen können. Kurzum: Es geht darum, die für Mensch und Natur vernichtende Katastrophe zu verhindern.

Doch es geht nicht nur um das, was wir zu verlieren haben, sondern auch darum, was wir gewinnen können. Es geht auch darum, die Welt gerechter zu machen. Es geht auch darum, unsere Städte sauberer und leiser zu machen, unsere Wälder gesünder und unsere Böden fruchtbarer. Es geht darum, in Zukunft gesünder, sicherer und friedlicher zu leben. Es geht um Planetary Health und den darin begründeten systemischen Ansatz der gegenseitigen Abhängigkeit von Umwelt und Gesundheit. Denn nur ein systemischer Wandel kann ein fruchtbares Leben in einer sozial und finanziell gerechteren Gesellschaft ermöglichen: einer Gesellschaft, die sich innerhalb der ökologischen Grenzen entwickelt.

Für diese Ziele friedlichen Widerstand zu leisten lohnt sich. Das erkennen immer mehr Menschen, die sich den globalen Protesten gegen die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen anschließen. Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in die Schule gehen, Wissenschaftler:innen, die zu zivilem Ungehorsam aufrufen, Rentner:innen, die sich auf Straßenblockaden anketten, Ärzt:innen, die für den Kampf um die Zukunft rechtliche Konsequenzen in Kauf nehmen. Menschen, die Mut und Entschlossenheit zeigen angesichts all dessen, was wir zu verlieren und zu gewinnen haben. Und all jene, die diese Menschen unterstützen. Menschen, die Waldbesetzer:innen Lebensmittel bringen, Repressionskosten finanzieren, Unterstützungsstrukturen organisieren, Ortsgruppen gründen und vieles mehr.

Was diese Menschen eint, ist die Überzeugung, dass wir die Klimakatastrophe und das Artensterben ohne friedlichen zivilen Widerstand nicht mehr abwenden können. Wer das anerkennt, muss sich fragen, wo seine oder ihre Rolle in dieser globalen Bewegung für eine gerechte Zukunft ist. Ob auf der Straße, in der Bildungsarbeit, in politischen Debatten oder in den Unterstützungsstrukturen: der Widerstand wächst und wird lauter. Und mit der Aussicht, dass wir gemeinsam Wirksamkeit erfahren und einen nachhaltigen Wandel einleiten können, kann auch der Widerstand manchmal Spaß machen.





Über die Autorinnen

Clara Dilger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Leipzig.

Dr. med. Dagmar Engels ist Fachärztin für Allgemeinmedizin in Bochum.

Maria-Inti Metzendorf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Düsseldorf.


Quellen und Anmerkungen:

[1] Lenton TM, Rockström J, Gaffney O, Rahmstorf S, Richardson K, Steffen W, Schellnhuber HJ (2019). Climate tipping points — too risky to bet against. Nature 575, 592-595. https://doi.org/10.1038/d41586-019-03595-0

[2] Müller O, Jahn A, Gabrysch S (2018). Planetary Health: Ein umfassendes Gesundheitskonzept. Deutsches Ärzteblatt 115(40): A 1751-2.

[3] An der Medizinischen Fakultät in Berlin wird beispielsweise an einem neu eingerichteten Lehrstuhl zum Thema „Planetary Health“ der Zusammenhang und die Abhängigkeit zwischen dem Zustand unseres Planeten und unserer Gesundheit von Sabine Gabrysch, Professorin für Klimawandel und Gesundheit, erforscht.

[4] Beyer RM, Manica A, Mora C. Shifts in global bat diversity suggest a possible role of climate change in the emergence of SARS-CoV-1 and SARS-CoV-2 (2021). Science of The Total Environment 767, 145413. https://doi.org/10.1016/j.scitotenv.2021.145413.

[5] World Health Organization (2009). Climate Change is affecting our health. https://www.who.int/globalchange/publications/climate_change_health_brochure/en/

[6] The Lancet (2020). Editorial. Doctors and civil disobedience. The Lancet 395 (10220): P248. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30120-3

[7] Bennett H, Macmillan A, Jones R, Blaiklock A, McMillan J (2020). Should health professionals participate in civil disobedience in response to the climate change health emergency? The Lancet 395(10220): 304-308. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(19)32985-X


Zuerst erschienen in umwelt – medizin – gesellschaft, Ausgabe 1/2021, 34. Jahrgang (gekürzte Fassung).




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