Aktivismus aus dem Verkehr ziehen?

Geschrieben von Manon Gerhardt am 02.10.2023

IAA München, 9. September 2023

Dann bewegt sich ja nichts mehr.

Vor zwei Wochen war ich in München. Auf der IAA.

Ich kam am Donnerstagnachmittag mit dem Flixbus am ZOB an. Beinahe pünktlich.

München wirkt für mich immer etwas eng, die Straßen sind generell schmaler als in Berlin, es ist noch weniger Platz für all die Menschen, die von A nach B wollen. Vielleicht springen einem die Konflikte, die sich aus den verschiedenen Interessengegensätzen ergeben, deshalb auch noch deutlicher ins Gesicht.

In München kommen 761.000 PKWs auf 1,6 Millionen Menschen, in Berlin sind es 1,23 Millionen PKWs auf 3.6 Millionen Menschen. Nicht eingerechnet Busse und LKWs. Beides absurde Zahlen. Zwei beziehungsweise drei Menschen auf je ein Privatauto.

Beide Städte ersticken in Staus, der öffentliche Raum ist verstopft mit parkenden Autos, die Luftqualität leidet, Jahr für Jahr mehr Verkehrstote, laut ist es sowieso.

Auf der IAA, einer der größten Automessen der Welt, wurde den Besucher:innen dennoch der Besitz eines privaten Autos als die Lösung aller Mobilitätsprobleme schmackhaft gemacht, schicke Elektroflitzer gab es zu bestaunen, aber auch riesige SUVs von deutschen Herstellern wie BMW, dessen Protagonisten der Reihe X6 üppige 2.250 kg Leergewicht auf die Waage bringen. 1990 wog ein vergleichbares Auto die Hälfte.

Die Straße ist ein Schlachtfeld, wer es sich leisten kann, fährt einen Panzer. Safety first.

Die etwa 800 Aktivist:innen vor Ort sahen sich einer Übermacht von Polizist:innen gegenüber, 4.500 Kräfte waren bestellt, um das Schaulaufen der Autohersteller vor Störungen zu schützen. Mit viel Mühe, Witz und Mut gelang es verschiedenen Gruppen, den Veranstaltern und Partygästen einige kleine Nadelstiche zu versetzen.

Hier eine Abseilaktion über der Autobahn, dort ein Banner und Rauchkerzen in einem öffentlichen Brunnen, anderswo eine symbolische Blockade eines Hersteller-Standortes außerhalb der Stadt.

Im Klimacamp im Luitpoldpark wurden währenddessen viele Aspekte des Themas behandelt. In Vorträgen und Podiumsdiskussionen kamen Menschen zu Wort, die die Auswirkungen der Gier nach individueller Höchstgeschwindigkeit und Komfort mit ihrem persönlichen Leid bezahlen. Denn am Auto hängen mehr als nur hohe CO2 Emissionen - immerhin 20 Prozent des gesamten deutschen Emissions-Aufkommens, und hier sind keinerlei Maßnahmen für die notwendige Reduktion in Sicht, aber für die Rohstoffgewinnung werden zudem im globalen Süden Wälder gerodet, Flüsse vergiftet und Menschenrechte verletzt.

Die postkolonialen Strukturen, auf denen unser heutiger Reichtum aufbaut, sind noch immer wirksam. Sie dürfen nicht außer Acht gelassen werden, wenn Bilanz gezogen wird, wie hoch der Preis für unseren Individualverkehr wirklich ist. Die Problematik schließt dabei Elektromobilität ein, denn auch Batterien wachsen nicht auf Bäumen.

In der Polizeimaßnahme, die umständlich analog verlief, hatten wir freie Sicht auf Besucher:innen der Messe, die uns ihrerseits von erhöhten Ausstellungsplattformen beobachteten wie interessante Tiere im Zoo. Eine Aktivistin rief zu ihnen die Frage hinüber, warum sie diesen Tanz um die heilige Kuh Auto denn immer noch mitmachten, wo doch auch bei uns in Deutschland Klima- und ökologische Krise unübersehbar stattfänden.

Und das fragte ich mich auch, frage es mich eigentlich jeden Tag.

Warum akzeptieren die allermeisten Menschen willig, dass einem Auto mehr Platzanspruch in einer Stadt eingeräumt wird als einer Arbeitnehmer:in? Nämlich 11,5 qm Parkraum für das Auto, und genau 1 qm Pausenraum für den arbeitenden Menschen. Die 6 Quadratmeter, auf die ein Kind in der Schule Anspruch hat, werden in den seltensten Fällen eingehalten. Beim Bau einer Wohneinheit muss der Bauherr 1,5 Parkplätze einplanen, sonst bekommt er keine Baugenehmigung. Und dabei brauchen wir dringend mehr bezahlbaren Wohnraum in den Städten.

Warum stört es kaum jemanden, dass Deutschland in den letzten 30 Jahren doppelt so viel Geld in den Ausbau von Straßen als in den Ausbau von Schienen investiert hat? Alle stöhnen unter der Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn, aber kaum einer fragt sich, warum Züge und Gleise so marode sind.

Warum protestieren nicht mehr Menschen, wenn ein wunderschöner alter Mischwald am Stadtrand Berlins - in der Wuhlheide - einem völlig veralteten Straßenbauprojekt zum Opfer fallen soll, ein anderes wertvolles Biotop - in Berlin-Mahlow - einem Parkhaus?

Solche Projekte stammen aus dem letzten Jahrtausend und widersprechen heutigen Erkenntnissen und den Bedarfen einer diversen Gesellschaft.

Seit 70 Jahren blockiert das immens starke Straßenverkehrsgesetz sämtliche ambitionierte Versuche von Politiker:innen in Richtung Transformation der Mobilität, so dass fast jede strittige Entscheidung zugunsten eines flüssigen Autoverkehrs ausfällt, auch wenn Modellversuche attraktive Alternativen aufzeigen.

Die Leute nehmen es hin, weil ihnen von Politik und vielen Medien seit Jahrzehnten eingetrichtert wird, dass es zur Anbetung des Autos leider keine Alternative gibt. Dass Deutschland ohne seine Autoindustrie unmittelbar in die Steinzeit katapultiert würde. Und dass freie Fahrt für freie Bürger ein natürliches Recht ist, was Deutschland vor allen anderen Nationen auszeichnet. Letzteres hinterfragen viele vielleicht mittlerweile, aber für ein Tempolimit auf die Straße gehen sie dann doch nicht.

IAA München, 9. September 2023

50 Prozent aller Menschen weltweit leben in Städten, 2050 werden es 70 Prozent sein. Städte produzieren ⅔ aller CO2-Emissionen.

In Städten wird entschieden, wie wir in Zukunft miteinander leben werden, wie wir mit knapper werdenden Ressourcen umgehen, und wie wir mit immer heißeren Sommern, unkalkulierbaren Regenfällen und Stürmen fertig werden.

Hunderte Expert:innen anerkannter Institute entwerfen Szenarien, welche Maßnahmen notwendig und auch machbar sind, um die absurde Dominanz des Autoverkehrs zugunsten aller Verkehrsteilnehmenden schrittweise zurückzudrängen, so dass der öffentliche Raum gerechter verteilt werden kann und die Städte resilient für klimatische Veränderungen gemacht werden können.

Diese Szenarien lesen sich paradiesisch: Überall sichere Radwege, ein für Menschen mit kleinem Einkommen - oder auch alle Menschen! - kostenloser ÖPNV, autofreie Einkaufsstraßen mit Sitzgelegenheiten für jung und alt, Spielzonen für Kinder, grüne Oasen für Urban Gardening Projekte, die im Sommer kühlen und in den Kiezen für Begegnungsorte und Gemüse aus eigenem Anbau sorgen, die Luft riecht nach blühenden Wiesen, mitten in der Stadt hört man Vögel singen.

Klingt das nicht verlockend? Würde das nicht eine höhere Lebensqualität für uns alle bedeuten?

Seltsam, dass die Abgeordneten aller Parteien davon aber nicht sprechen, wenn sie auf Stimmenfang gehen. Die „Gutwilligen“ von SPD und Grünen schaffen es nicht, die Verkehrswende als Win-Win-Szenario zu verkaufen und verschleppen die dafür notwendigen Maßnahmen jahrelang. Die CDU erklärt stolz „den Kampf gegen das Auto für beendet“, nachdem Neuwahlen in Berlin eine GroKo ins Amt hieven konnten.

Kampf gegen das Auto, bitte was??

Der Berliner Senat hatte 2018 ein Mobilitäts-Gesetz verabschiedet, das den Ausbau von 2.700 km Radwegen in der Stadt vorsah. 5 Jahre später sind genau 4,3 Prozent davon umgesetzt, der Autoverkehr aber hat drastisch zugenommen und ein neuer Autobahnabschnitt der A100 zerschneidet Kleingärten und Sportplätze.

Hier wird kein Kampf gegen das Auto geführt. Mitnichten.

Wir führen einen Kampf gegeneinander und gegen unsere natürlichen Lebensgrundlagen, und das mit einer Aggression, die mittlerweile unsere gesamte Existenz als Spezies gefährdet.

Wann hören wir damit auf??

Berlin ist eine wunderbare Stadt mit unfassbar vielen Möglichkeiten.

Die politischen Parteien müssen sich eigentlich nur zum Handeln aufraffen.

Gute Konzepte liegen auf dem Tisch und sind anderswo auch schon erfolgreich umgesetzt:

Wir könnten nach Kopenhagen schauen, die Stadt, die es vermutlich schaffen wird, bis spätestens 2030 klimaneutral zu werden. Wo es fünfmal mehr Fahrräder als Autos gibt. Wo energetisch und ökologisch sinnvoll gebaut und geheizt wird. Und wo Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden und die Transformation begeistert mitgestalten. Davon könnten wir uns was abgucken.

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich in München in Sichtweite des IAA-Geländes in der Polizeimaßnahme stehe, wo mir neben meinem Personalausweis auch unser Fake-Geld, unsere Wasserkanister und sogar mein Bobby Car - alles Props für eine Straßenperformance - weggenommen und tatsächlich beschlagnahmt werden. Zur Gefahrenabwehr.

Die Absurdität des Autolobby-Schaulaufens wird durch das idiotische Gebaren der Uniform-Träger:innen noch überboten, wir sind erschöpft und mit unserer Phantasie fast am Ende.

Trotzdem geben wir nicht auf und denken uns neue Aktionsbilder aus, improvisieren mit dem verbliebenen Material und bringen am Samstag doch noch einmal eine Menschenkette direkt vor dem IAA-Eingang in Stellung. Auch spielen wir eine abgespeckte Version der Theaterszene vor, ohne Soundtrack und nur mit zwei Protagonistinnen: Mutter Natur mit Blumenkrone und ein „oilhead“, das bin ich im Anzug und mit einem schwarz gesprühten Wasserkanister auf dem Kopf. Mit dem Ersatz-Bobby Car bedränge ich meine mit Blumen geschmückte Freundin, schmiere schwarze Farbe an ihre Arme, zerre sie zu Boden und „erschlage“ sie am Ende mit dem Spielzeug-Auto.

Dieses Bild drückt eigentlich alles aus, was ich zusammenfassend über die derzeitige Verkehrspolitik in Deutschland und Berlin sagen kann.

Es ist der kindische Glaube an die Möglichkeit eines „Weiter-so-wie-bisher“, das Festhalten an alten Strukturen und die Unfähigkeit, ein untaugliches Mindset abzulegen, was politisches Handeln blockiert. Es ist diese jeden echten Wandel ablehnende Pfadabhängigkeit derjenigen an der Macht, die mittelfristig zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen führen wird.

Wenn wir nicht einschreiten.

Es braucht massiven Druck von der Straße und ein Bündnis aller Willigen, diese Entwicklung aufzuhalten. Es braucht Mut, Kreativität und Durchhaltevermögen, dabei nicht selber zu verzweifeln. Aber es lohnt sich, wir haben zu viel zu verlieren.

Aber ich denke, noch viel mehr zu gewinnen.

Ein besseres Leben für alle nämlich, nicht weniger.

Also halte ich es mit Monika Herrmann, ehemaliger Bürgermeisterin von Berlin Friedrichshain-Kreuzberg:

„Aktivist:innen sollen der Verwaltung in die Hacken treten! Denn wenn die Straße ruhig ist, bleibt der Handlungsdruck aus“.


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