Die Geschichte des Baumgeistes

Geschrieben von XR München am 22.09.2020

Als ich geboren wurde, war ich ganz klein. Ich bin auf einen toten Baum gefallen, er hat mich genährt. So ist das hier im Regenwald. Die Alten und Schwachen gehen und geben Raum und Nahrung für neues Leben. Ein alter Baum hat mir das Leben geschenkt, während meiner Zeit hier werde ich vielen Nahrung und ein Zuhause schenken. Und wenn ich sterbe, dann wird aus mir neues Leben geboren.

Hier im Regenwald sind wir alle aufeinander abgestimmt, ein konstantes Geben und Nehmen, Tod, Geburt, Wachstum, wieder der Tod und wieder das Leben. Jedes Tier, jede Pflanze, jedes Wesen hat hier seinen eigenen kleinen Platz, das nur es mit seiner Einzigartigkeit besetzen kann. Ohne diese vielen kleinen und großen einzigartigen Lebewesen gäbe es dieses Gleichgewicht nicht.

Und so durfte ich wachsen. Unsere Mutter Erde hat mir einen Platz auf einem alten Baum geschenkt. Er hat mich genährt und gestärkt. Und während ich wuchs, erlebte ich die feuchte Wärme des Regenwaldes. Ich erlebte Wind, der an mir rüttelte und mich stärker werden ließ. Ich sah das Spiel des Lichtes, spürte seine Wärme auf meinen Blättern und erfreute mich an der Nahrung, die mir das Licht schenkte. Ich gab Lebensraum für die vielen unzähligen Insekten; Tiere striffen an mir entlang auf der Suche nach Nahrung. Die Vögel sangen ihre einzigartigen, unzähligen Lieder. Ich spürte die schweren Regentropfen auf mir, wie sich das Nass um mich herum ausbreitete. Ich durfte davon trinken und weiterwachsen. Dieses Spiel vollzog sich jeden Tag und doch war jeder Tag einzigartig. An manchen tanzten die Vögel für einander, an anderen kamen neue Wanderer an mir vorbei auf der Suche nach Beute. Und manchmal war es die Beute, die sich hinter mir versteckte, um dann schnell aufzuspringen und davon zu laufen. Meine Brüder und Schwester bewegten sich neben mir im Wind, sie wuchsen wie auch ich wuchs. Manche gingen, um neuem Leben Platz zu machen, andere wurden groß und stark. Auf ihnen lebten Vögel, Schlangen, Insekten, Affen und noch viele mehr.

Die Veränderung kam zunächst langsam. Die Luft war anders. Es gab Tage, mehrere Tage an denen viele Tiere wegliefen. Sie rannten an mir vorbei. Ich erinnere mich an die Erschütterung über meinen Wurzeln. Angst lag in der Luft, aber nicht nur Angst. Irgendwie war es dunkler, grauer. Und langsam wurde der Wald stiller. Es gibt Tropenvögel, die die Geräusche ihrer Umgebung nachsingen. Aber es war kein Gesang, der zu hören war. Es waren andere Geräusche, die sie nun machten. Geräusche von Maschinen. Sie ahmten nun die Geräusche von Kettensägen nach und nicht mehr die der Tiere.

Der Wald veränderte sich. Viele wissen es nicht, aber wir Bäume kommunizieren miteinander, wenn Gefahr besteht. Wir kommunizieren über Pilze in der Erde oder wir schicken Duftstoffe in die Luft. Wenn große Tiere von uns fressen wollen, können wir uns so gegenseitig warnen und Bitterstoffe an unseren Blättern ausschütten, sodass wir nicht ganz gefressen werden. Doch die Warnungen vergehen normalerweise wieder. Und normalerweise leben wir dann wieder friedlich in unserem Gleichgewicht aus Geben und Nehmen, aus Tod und Leben.

Und dann kam die Veränderung sehr plötzlich. Es war heiß, das Licht stimmte nicht. Meine Brüder und Schwestern waren in heller Aufruhr, von allen Seiten kamen Warnungen. Und dann wurden es weniger Stimmen. Gegen Tiere können wir uns wehren, aber was sollen wir tun, wenn der Mensch kommt? Weglaufen können wir nicht.. Und es wurde heißer. Die Stimmen in meinen Wurzeln erloschen, während ich auch zu schreien begann. Meine Blätter zogen sich in der Hitze zusammen, es wurde immer unerträglicher. Die Bäume, die Schlingpflanzen, die Pilze – sie starben alle vor mir im lodernden Feuer.

Mein Herz brach als meine engste Familie vor mir starb. Der Tod gehört zum Leben dazu, der Tod ist Teil des Regenwaldes, Teil des Kreislaufes. Aber dies war anders, denn aus ihnen würde kein neues Leben mehr entstehen, es würde keine Geburt mehr geben. Und so ging auch ich in Flammen auf. Es war unerträglich. Sterben wäre eigentlich eine Erlösung gewesen, hätte ich gewusst, dass aus mir neues Leben entstehen würde. Aber ich wusste, der Kreislauf war zerstört. Nun gabe es nur noch nehmen, nur noch Tod. Wir sterben an der Gier der Menschen. Unsere jahrtausende alte Einzigartigkeit, Vielfalt und Zusammenarbeit wird in nur wenigen Stunden zerstört. Und mit unserem Tod werden auch sie sich bald in den Abgrund reißen. Denn sie verstehen nicht: Wir sind das Leben, wir sind ihre nährende Mutter Erde und ohne uns wird es auch sie nicht mehr geben.

Ich lade euch zu einer Schweigeminute für unsere wunderbare Mutter Erde ein, die uns jeden Tag unser Leben ermöglicht, und die vielen Tiere und Lebewesen die wegen uns täglich sterben müssen.

Lisa Poettinger

2019 wurde pro Sekunde ein Fußballfeld-großes Waldstück abgeholzt. Ein Drittel davon im Amazonas in Brasilien. Unserer grünen Lunge. Die Feuer im Amazonasgebiet dieses Jahres übertrafen die Feuer im letzten Jahr. Laut Umweltforscher Rico Fischer braucht der Regenwald mindestens 100 Jahre, um sich zu erholen.

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